Kirsten Liese

Bayreuth: Barocke Entdeckerfreuden

Das 3. Bayreuth Baroque Opera Festival überrascht und überzeugt

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 12/2022 , Seite 47

Ursprünglich machte er sich als Countertenor einen großen Namen. Nun befindet er sich auf dem besten Wege, sich als einer der besten Regisseure auf dem Gebiet der Barockoper zu etablieren: Max Emanuel Cenčić.
Nachdem Cenčić 2020 in der ersten Ausgabe seines Bayreuth Baroque Opera Festivals – und das in schwierigen Corona-Zeiten! – das kaum bekannte Musikdrama Carlo il Calvo von Nicola Porpora fulminant als mafiöses Kammerspiel inszenierte, widmete sich der gebürtige Kroate nun in seiner dritten Ausgabe ebenso überragend einem vergessenen Werk des Neapolitaners Leonardo Vinci (1690-1730 und nicht zu verwechseln mit dem berühmten Maler): Alessandro nell’Indie spielt auf Alexander den Großen und seinen Feldzug nach Indien an, hat damit aber wenig zu tun. Letztlich geht es um Liebesaffären, Eifersüchteleien und Missverständnisse zwischen zwei herrschaftlichen Lagern, dem makedonischen unter Alexander und einem indischen unter König Poro und seiner geliebten Cleofide. Durchaus stimmig siedelte Cenčić die Handlung zur Zeit des britischen Königs George IV. an.
Ohne Besetzungszettel würde man wohl kaum glauben, dass alle Figuren von Männern verkörpert wurden. Vor allem deshalb nicht, weil der treffliche Sopranist Bruno de Sá verblüffend wie eine Frau sang und spielte. Auch aufgrund seiner zierlichen Erscheinung gab der Brasilianer überzeugend Cleofide, die Königin. Eine simple Travestie-Parade war die Inszenierung folglich nicht, auch wenn sie subtil einen Beitrag zur Genderdebatte leistete. Vielmehr spielte sie auf die Tradition im 18. Jahrhundert an, als die Geistlichkeit Frauen den Zugang zur Bühne verwehrte.
Als Sänger mischte sich der Festivalchef dieses Mal nicht unter sein Ensemble, aber seine Regiearbeit bestach als ein vergnüglicher Augenschmaus mit opulenter Ausstattung und augenzwinkernden ironischen Brechungen. Domenico Franchis Bühne strotzte nur so vor imposanten Dekors, spektakulären Tänzen (Choreografie: Sumon Rudra), Messerkämpfen, goldenen Elefanten, exotischem Flair und Bollywood-Bombast, und auch die glamourösen Roben (Kostüme: Giuseppe Palella) bildeten einen herrlichen Blickfang in dem nicht minder prächtigen Markgräflichen Opernhaus.
Musikalisch war dieser Alessandro gleichermaßen ein Fest, dies allein schon dank affektreicher Arien, Rezitative und Duette, die fünf Stunden wie im Fluge vergehen ließen und in ihrem melodischen Einfallsreichtum dem wohl bedeutendsten Barockopernkomponisten Georg Friedrich Händel in nichts nachstanden. Nicht alle Sänger-Protagonisten präsentierten sich von Beginn an allerdings stimmlich so in Hochform wie der Countertenor Nicholas Tamagna als Alessandros Feldherr Timagene, steigerten sich aber von Akt zu Akt. In den Spitzen seiner virtuosen Koloraturen tönte der Countertenor von Franco Fagioli mitunter recht eng. Maayan Licht in der Titelrolle gewann erst ab dem zweiten Akt an stimmlicher Präsenz. Und doch hatten auch diese beiden große Momente: In einer der schönsten Arien dialogisierte Fagioli sehr beredt mit der Solo-Violine. Martyna Pastuszka, die das Residenzorchester des Festivals mit ihrer Violine aus dem Graben souverän, stilsicher und hoch engagiert leitete, kam für diese Nummer auf die Bühne, wo sie und der Sänger einander räumlich und musikalisch brillant umspielten.
Der Sänger Max Emanuel Cenčić präsentierte sich anlässlich seines vierzigsten Bühnenjubiläums in einem von George Petrou geleiteten Galakonzert an der Seite des kongenialen Ensembles Armonia Atenea. In dem für einen Countertenor durchaus fortgeschrittenen Alter von 46 Jahren sang er in allen Registern agil, sicher, schlank und mit kräftigem Strahl Arien aus Händel-Opern wie Giulio Cesare, Tamerlano, Rodelinda oder Radamisto. Das machen ihm nicht allzu viele Kollegen nach.
Mit Jeanine de Bique präsentierte das Festival auf einem weiteren Konzert das neue Barock-Sopranwunder aus der Karibik. Mit warmem Timbre, Innigkeit und großer Zärtlichkeit sang sie Arien von Händel, Graun oder Vinci, in denen sich bedingungslose Liebe, innere Stärke oder Verletzlichkeit ausdrückten. Zwar tönen ihre Spitzentöne nicht ganz so luzid und kristallklar wie bei ihrer russischen Kollegin Julia Lezhneva, aber ihr Dialogisieren mit der Solo-Oboe in der Arie „L’alma mia“ aus Agrippina war vom Feinsten. Die große musikalische Hingabe der Sängerin übertrug sich jedenfalls auf das Publikum, das mehrere Zugaben einforderte.
Seine Bedeutsamkeit neben anderen Festivals der Alten Musik wie zum Beispiel den drei Händelfestspielen in Halle, Göttingen und Karlsruhe unterstrich das Bayreuth Baroque mit dem Einsatz für vergessene Meister, dies auch seitens der Kammermusik. Die intimen, meditativ anmutenden Kirchensonaten von Benedikt Anton Aufschnaiter, trefflich dargeboten von dem Ensemble Ars Antiqua Austria, waren dafür ein gutes Beispiel, zumal sich die 1718 errichtete Ordenskirche in der Gemeinde St. Georgen mit ihren herrlichen barocken Fresken als der ideale Ort dafür empfahl.
Schon darf man auf die nächste Opernausgrabung des entdeckungsfreudigen Festivalchefs gespannt sein. Die Musikdramen des böhmischen Komponisten Josef Mysliveček, über den der Filmregisseur Petr Vaclav gerade einen grandiosen Film gedreht hat, wären sicherlich eine dankbare Aufgabe.