Boris Gruhl
Bautzen: In Bautzen wird gefeiert
70 Jahre Sorbisches Nationalensemble – mit Musik und Tanz in „Wir waren, wir sind, wir werden sein“
Große Ereignisse stehen für das Sorbische Nationalensemble in Bautzen an. Vor 70 Jahren, im April, begannen die ersten Proben des damaligen Sorbischen Volkskunstensembles mit Orchester und Chor: von Beginn an mit dem Tanz, bald dem Ballett des in seiner Art weithin einmaligen Ensembles, dessen künstlerische Bedeutung auch bald zu einer besonderen Kraft des optischen Ausdrucks sowohl sorbischer Traditionen als auch zeitgenössischer Tanzkunst wurde. Im Oktober vor 70 Jahren wurde dann das Sorbische Volkskunstensemble gegründet. Der erste öffentliche Auftritt, im Dezember 1952, am Cottbusser Theater, war der eigentliche Start für die spätere Umbenennung: Sorbisches Nationalensemble.
Inzwischen war dieses einmalige Ensemble auf vier Kontinenten in mehr als 40 Ländern als Kulturbotschafter des sorbischen Volkes unterwegs. Und zum Jubiläum, im Oktober, wird zudem der Neubau für das Ensemble mit Aufführungs- und Probenräumen sowie einem Verwaltungstrakt eröffnet. Da traf es sich aktuell wahrhaft gut, dass die wegen der Corona-Einschränkungen verschobene Großproduktion des Ensembles mit allen Sparten und Solisten, ein großes Tanz-, Musik- und Bewegungstheater in der Choreografie und Inszenierung von Mirko Mahr, mit dem Libretto von Philipp J. Neumann, gewissermaßen als Start für die Jubiläumsfeiern am Theater in Bautzen eine stürmisch bejubelte Uraufführung feiern konnte.
Wir waren, wir sind, wir werden sein heißt diese Produktion zur Musik von Korla Awgust Kocor, einem der bedeutendsten sorbischen Komponisten, der vor 200 Jahren geboren wurde. Die Musik wurde aus seinen Oratorien zu den Jahreszeiten zusammengestellt, teilweise auf Grundlage der originalen Klavierfassungen neu orchestriert von Liana Bértok und Christian Kabitz und als klangliche Verbindung zur Gegenwart mit dezenten elektronischen Passagen von Christoph Julius Göbel verbunden. Mit dieser Abfolge der Jahreszeiten gelingt es, insbesondere kraft der Musik im Dialog mit der choreografischen Inszenierung, der Frage nachzugehen, wie es „in den vergangenen einhundert Jahren einem als Minderheit lebenden Volk gelingen konnte, sich allen drastischen Unterdrückungsversuchen zum Trotz am Leben zu erhalten“, wie es im Begleitheft heißt.
Und immer wieder sind es die Tänzer:innen, denen es gelingt, nachdenklich oder auch verzweifelt, in solistischen Passagen, einander aufhelfend in hoffnungsvollen Hebefiguren Visionen der Freiheit hör- und sichtbar zu machen.
Auf den Herbst von 1919, nach dem Ende des Krieges, mit dem so hoffnungsvollen Aufbruch, bei dem natürlich die Traditionen des Tanzes und der Musik in der Verbindung mit dem Erbe der Folklore von besonderer Bedeutung sind, folgt der Winter 1937 mit den Verboten, Verfolgungen und Verhaftungen durch die Gestapo, doch auch mit den Momenten der Hoffnungen und politischem Widerstand. Hier sind es die musikalischen, szenischen Momente der Einsamkeit, der Verzweiflung und doch immer wieder des hoffnungsvollen Aufbruchs, wie an jenem Weihnachtsabend des dunklen Winters 1937, die gezeigt werden.
Dann ein Sprung in den Frühling 1980, mitten hinein in die Versuche der DDR-Kulturpolitik, alles den verordneten Gleichschritt-Rhythmen unterzuordnen, was auch die Abkehr junger Menschen vom Sorbentum mit sich bringt. Und dann, im so widersprüchlichen doch auch hoffnungsvollen Finale, ganz gegenwärtig, im Frühsommer dieses Jahres, gilt es, sich touristischer Vermarktung zu widersetzen. Und damit umzugehen, dass eine neue, junge Generation sich in eigenen Formen des Tanzes und Farben der Kleidung mit Traditionen auseinandersetzen muss, um sich selbstbewusst der Gegenwart, um der Zukunft willen, nicht zu verschließen. Bester Anlass für das jubelnde Finale mit stürmischem Tanz und musikalischem Aufbruch. Und so, wie Ballettmeisterin Mia Facchinelli die besten Voraussetzungen geschaffen hat für den Tanz in dieser genreübergreifenden Produktion, so verdankt sich dem Ensemble der Solistinnen und Solisten, dem Chor und vor allem dem Orchester unter der Leitung von Georgios Balatsinos dieser Erfolg in so mannigfaltigen Facetten. Kocors Musik ist zwar nicht denkbar ohne traditionelle Anklänge sorbischer Traditionen der Folklore, ist aber damit nicht einzig zu charakterisieren. Jetzt im Klang der Orchestrierung, im Zusammenspiel mit dem Chor und den Solist:innen, lassen sich sowohl Momente romantischer Melancholie wahrnehmen als auch Anklänge von zukunftsweisender Rhythmik.
Damit stellt sich die Frage, warum bislang diese Musik nicht auch in Programmen anderer Orchester zu erleben ist. Es könnten sich ja im künstlerischen Dialog mit anderen Traditionen des Klangs noch ganz neue Horizonte der Wahrnehmung öffnen.