Elisabeth Richter

Montepulciano: Baustelle brennender Themen

Das 47. Festival Cantiere Internazionale d’Arte in Montepulciano

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 10/22 , Seite 57

Meditativ hallen die Klänge durch den Raum. Aus der einen Ecke singen drei Solistinnen, gegenüber antwortet der Corale Poliziano, der Städtische Chor. Die Krypta der Chiesa del Gesù in Montepulciano hat die Form eines Kreuzes. In den anderen Ecken: ein Schlagzeuger, Klarinettisten, ein Fagottist, ein Mischpult für die Elektronik. Teatro dell’ascolto – Theater des Hörens hat Roberto Paci Dalò seine Hommage zum 100. Geburtstag von Pier Paolo Pasolini genannt. Die Musiker umhüllen das Publikum in der Raummitte mit Klang. Es sei ein akustischer Raum wie eine Art Fruchtwasser und seine Musik folge dem Herzschlag, verrät der an John Cage orientierte Komponist.
Zwei wichtige Prinzipien wurden bei dieser Veranstaltung des Cantiere Internazionale d’Arte eingehalten. Beim 1976 von Hans Werner Henze gegründeten Festival soll ein Austausch von Profi- und Laienmusiker:innen stattfinden. Und: Alle Künstler:innen treten ohne Gage auf. Roberto Paci Dalò zählt zu den renommiertesten Musikern und Filmemachern in Italien. Genauso wie der künstlerische Leiter des Festivals, der Komponist Mauro Montalbetti. Musikalischer Direktor ist der deutsche Dirigent Marc Niemann, Generalmusikdirektor in Bremerhaven.
Niemann leitete auf der diesjährigen „Internationalen Kunst-Baustelle“ – so die Übersetzung des Festival-Namens – zum einen professionelle Orchester (darunter die Dresdner Sinfoniker bei der Kammermusik 1958 von Hans Werner Henze als Hommage zu dessen 10. Todestag) und zum anderen das Städtische Orchester (Orchestra Poliziana), das vorwiegend aus Laien besteht. Das Konzert in der Kirche San Biagio aus dem 16. Jahrhundert, u. a. mit Beethovens Schauspielmusik zu Goethes Egmont, hatte ein erstaunliches Niveau, dank des Esprits von Marc Niemann, aber auch dank der seit der Festival-Gründung stetig gewachsenen Qualität des Orchesters. Es war von Anfang an immer eingebunden in das Festival.
Auch bei den diesjährigen Musiktheater-Produktionen hielt der Cantiere am Prinzip der gegenseitigen Inspiration von Profis und Laien fest. Bei den beiden zeitgenössischen Musiktheater-Werken – Between Mirrors von Sara Ste­vanović und L’ombra di un meriggio lontano von Virginia Guastella – wurden Bühne und Ausstattung sowie die Gesangspartien von Studentinnen und Studenten der Akademie der schönen Künste Macerata übernommen, während die Inszenierungen bei professionellen Regisseurinnen lagen. Die beiden in einer sehr dichten und punktuellen Musiksprache geschriebenen Werke thematisieren Aspekte wie Erinnerungen und Prägungen. Fragestellungen, die der künstlerische Leiter Mauro Montalbetti bewusst fokussieren wollte, aus Anlass der Erinnerungen an Hans Werner Henze und Pier Paolo Pasolini zu ihren diesjährigen Jubiläen. Er sieht in der Übersättigung von Informationen in unserer digitalen Welt die große Gefahr des Verlusts von Bewusstsein für Prägungen. Damit leistete auch das diesjährige Cantiere-Festival in der Toskana einen relevanten Beitrag zur künstlerischen Aufarbeitung brennender Themen.