Andreas Herzau/Holger Noltze

Bamberg Diary #1

Europa. Meine Heimat

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Nimbus
erschienen in: das Orchester 10/2020 , Seite 58

Es kommen viele Begriffe vor in diesem Reisetagebuch, die neu ausgeleuchtet werden. „Heimat“ ist einer von ihnen. Ein gutes Thema, wenn man vom Reisen spricht. Besonders, weil hier der Reisende ein Orchester ist, das eines der sprechendsten Musikstücke zu diesem Thema – nämlich Smetanas “Má Vlast” – zu einem seiner Marken- zeichen gemacht hat. Musik und Klang als Heimat, deren Geist hinausgetragen wird in eine größer dimensionierte Heimat namens Europ – denn verstreut in Europa liegen die Reisestationen, deren Streiflichter in Fotos und Essays eingefangen wurden.
Ein weiterer Begriff ist „Provinz“, der Ausgangspunkt jeder Rei- se der Musiker. Er wird von Eleono re Büning zurückgeführt zu seinem Ursprung, befreit vom Klischee des Rückständigen, Reduzierten, Begrenzten. Denn im Falle dieses Orchesters hat die Provinz als Standort deutlich Vorteile, um etwas Blühendes, Weltreichendes hervorzubringen. Dafür braucht es keine Wolkenkratzer und unüberschaubare U-Bahn-Netze, sondern vielmehr Tradition, die Nähe zu historisch gewachsener und geografisch verwurzelter Musik, jetzt auf höchstem Niveau ins Hier und Jetzt transportiert – zum gern als „böhmisch“ bezeichneten Klang der Bamberger Symphoniker.
Doch zurück zum Anfang. Das Buch beginnt mit einer Doppelseite Daten. Beim Umblättern werden daraus Geschichten – zunächst manifestiert in einem verschwommenen Foto. So verschwommen werden Fotos nur, wenn sie versuchen, eine Momentaufnahme einer großen Bewegung, einer immensen Dynamik zu sein. Hier ist es die Bewegung des derzeitigen Chefdirigen- ten Jakub Hrůša, die alles ausdrückt, was Musikmachen bedeutet: Energie, weitgespannte Gestik, volles Aufgehen. Beeindruckender und beredter geht es nicht. Das Tagebuch ist voller weiterer spannender Fotos von Andreas Herzau, die den Alltag des Großstadtlebens einerseits und den des Musikerdaseins anderseits aus zum Teil ungewohnten Perspektiven zeigen: Eine Frau passiert scheinbar unbeteiligt einen Dudelsackpfeifer, ein Mann hält sich hinter einem Blechbläser die Ohren zu. Offene Cello-Koffer sind so aufgestellt, als unterhielten sie sich. Es gibt natürlich auch die klassischen Ansichten: das Orchester in Konzertformation in der Totalen, eine Streichergruppe in höchster Konzentration im Profil. Daneben bunte Mosaiksteinchen der Tourneestädte Zürich, Edinburg, Wien, die berühmte Karlsbrücke in Prag aus der Vogelperspektive. Letzt- lich immer wieder Menschen, Menschen, Menschen: der kaffeetrinkende Musiker in der Pause ebenso wie die feinbetuchte Rückenansicht einer Konzertbesucherin.
Neben den Fotos stehen Worte, so wie es sich für ein Tagebuch gehört: über das Reisen heutzutage, über Befindlichkeiten während des Reisens, über Flussläufe, über die Suche nach Wurzeln über Nationalgrenzen hinaus. Es gibt Gespräche und Gedanken und letztendlich auch eine Huldigung der Bamberger Symphoniker. „Es trifft einen“, beschreibt Holger Noltze die Qualität des Orchesters und benennt etwas, das es in die Welt hinausträgt: die „Freisetzung von Freude“.

Sabine Kreter