Rothkamm, Jörg

Ballettmusik im 19. und 20. Jahrhundert

Dramaturgie einer Gattung

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Schott, Mainz 2011
erschienen in: das Orchester 06/2012 , Seite 62

Im Vergleich zu anderen Musiktypen stehen Ballettkompositionen traditionell in geringerem Ansehen. Die vorliegende, so material- wie detailreiche Studie plädiert für eine Revision der geltenden Würdigung und wendet sich der „originären Ballettmusik“ zweier Jahrhunderte am Beispiel von fast 20 einschlägigen Werken zu – von Beethovens Geschöpfen des Prometheus über die Klassiker des romantischen Balletts bis zu den Schöpfungen der Moderne, wie sie in Folge der Reformen durch die Ballets russes zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa bei Strawinsky entstanden und bei Hans Werner Henze, Bernd Alois Zimmermann, Mauricio Kagel oder Alfred Schnittke teilweise neue Wege beschritten.
Die Fülle und Vielfalt dieser Werke macht die Definition der „Dramaturgie einer Gattung“ problematisch. Dem Autor geht es um „Bedingtheit, Struktur und historische Entwicklung“ der Ballettmusik, die er in Abgrenzung von anderen musikalischen Genres bestimmt sieht durch ihren „intendierten Bezug zur Kunstform Ballett“. Dabei zieht er neben den Partituren auch musikalisches Probenmaterial der einzelnen Stücke (soweit vorhanden) heran, greift überdies auf von Choreografen annotierte Notenexemplare sowie Zeit- und Selbstzeugnisse der befassten Künstler zurück und stützt sich ergänzend auf Belege zeitgenössischer Tanznotationen, deren begrenzte Aussagekraft ihm bewusst ist.
Charakteristische Bestandteile der Ballettmusik im 19. Jahrhundert mit ihrer konstituierenden „Nummerndramaturgie“ sind nach Rothkamm drei Musiktypen: die „Pantomime-Musik“, die namentlich bei frühen Stücken etwa mit „airs parlants“ (wie in Hérolds Fille mal gardée) oder auch mit einer sinnleitenden Erinnerungsmotivik (besonders Adams Giselle) den linear-narrativen Anteil der Ballette prägt; die Musik für Gruppentänze, wie sie etwa bei National-, Gesellschafts- und Charaktertänzen der klassischen Ballette beispielsweise in ihren Divertissements Verwendung findet; und schließlich die (meist handlungsferne) „Pas-Musik“ mit ihrer grundsätzlich fünfteiligen Struktur für die virtuosen Tänze der Solisten. Dabei orientiert sich die Komposition erkennbar an den Bedürfnissen des Tanzes.
Erst im 20. Jahrhundert ändert sich die bis dahin bestimmende Hierarchie von Komponist und Choreograf. Zwar werden Elemente der Ballett-Tradition durchaus übernommen, aber in ihrer Umsetzung kommen zunehmend innovative Entwicklungen ins Spiel, die die zunehmende Abkehr des Tanzes von seiner alten Erzählfunktion hin zu einer abstrakten, absoluten Kunstform bezeugen und in denen sich ein deutliches Primat der Musik vor der Choreografie geltend macht (wie etwa in Schnittkes Peer Gynt). Die programmatische Überschreitung der Gattungsgrenzen in der Moderne, die dem Ballett ja zunehmend auch tanzfremde Kompositionen und Klangflächen kreativ hinzugewinnt, macht die Trennlinien zwischen den Schwesterkünsten bisweilen unscharf. Gleichwohl bildet diese Untersuchung in Analyse, Vergleich und Abgrenzung einen wichtigen, grundlegenden Beitrag zur Beschreibung der originären Ballettmusik, auf der künftige Forschungen werden aufbauen müssen – und können.
Rüdiger Krohn