Berger, Christian / Günter Schnitzler (Hg.)

Bahnbrüche: Gustav Mahler

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Rombach, Freiburg 2015
erschienen in: das Orchester 10/2015 , Seite 63

In Gustav Mahlers Schaffen gehen Tradition und bahnbrechende Modernität schier „unmögliche Synthesen“ ein, was Zeitgenossen verstörte und zahlreiche Nachgeborene bis heute immer noch irritiert. Grund genug, trotz einer kaum mehr überschaubaren Fülle von Literatur, eine Tagung am musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Freiburg zu initiieren, deren Erträge nun im vorliegenden Buch nachzulesen sind. Sechzehn teils sehr bemerkenswerte und gedankentiefe Aufsätze gehen zum einen auf die vielschichtigen Bezüge frühromantischer Gedankenwelten ein, zum anderen verweisen sie auf die schillernde und komplexe Modernität, die auf Mahler wirkte und wie er diese weiter befeuerte.
Insbesondere Mitherausgeber Günter Schnitzler beleuchtet in seinem dicht geschriebenen Beitrag jene zwei Komponenten: Mahlers Übernahme der Idee der Frühromantik, welche die  vereinfachende Kausalität hin zu einem Wirklichkeitsfeld verabschiedet, in dem „alles mit allem verbunden und das Heterogenste miteinander in Beziehung gesetzt ist“, womit der Autor die Grundzüge in Mahlers Schaffen herausarbeitet: „…von der Gleichzeitigkeit des Disparaten bis zur ‚unmöglichen Synthese‘ von Gegensätzen [worin er beispielsweise einen Trauermarsch mit einem banalen Militärmarsch verbindet], die sich in ihrer Gegensatzstruktur als paradoxe Verhältnisse offenbaren, vom Prinzip der Fläche bis zur Aufhebung der Grenzen“. Resümierend ist für Schnitzler klar, dass Mahlers Weg in die Moderne jene sei, die sich im Gegensatz zur Dodekafonie oder Serialität „letztlich in ihren fortwährenden Wandlungsmöglichkeiten als die reichere und auch beständigere Moderne offenbart hat“.
Trotz allen Wandels sieht beispielsweise Gerd Indorf aber auch eine gewisse Kontinuität in Mahlers Schaffen, die sich nah am Begriff der „Spirale“-Tradition hält (ein von Friedrich Nietzsche  intendierter und von Hofmannsthal gebrauchter Begriff eines innovativen Wandels auf der Grundlage von Tradition). Janina Klassen erhellt die lebendige, multimusikalische Situation zwischen Historismus und Fortschritt, Nostalgie und Monumentalität im wachsenden Wien um das Jahr 1880, als Mahler mit seinem opulenten und teils avantgardistischen Werk Das klagende Lied den Beethoven-Compositionspreis zu gewinnen suchte. Ein Zeitraum, als sich auch zwei Lager konservativ (Hanslick/Brahms) und fortschrittlich Denkender (Wagner/Bruckner) verbal attackierten.
Ferner finden sich im Band auch werkimmanente Schriften wie über die vertonten Lieder aus der Gedichtsammlung Des Knaben Wunderhorn (Carolin Abeln), die 1. Sinfonie (Christian Berger), den Naturlaut im Urlicht (Stefan Häussler), die Neunte (Elmar Budde und Peter Andraschke) oder den rezeptionshistorischen Beitrag über Mahlers Fünfte in der Sicht Arthur Schnitzlers (Hartmut Kronos). Vom Umfang her nimmt Rainer Bayreuthers philosophischer und mit breitem Hintergrundwissen gespickter Beitrag über „Welt und Politik in Mahlers achter Symphonie“ den größten Raum ein.
Werner Bodendorff