Wolfram Schurig

Bagatellen (2018-21)

Für Streichquartett, Studienpartitur

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Edition Gravis
erschienen in: das Orchester 04/2022 , Seite 70

Nichts ist, wie es vordergründig scheint, auf den über einhundert Seiten, die Wolfram Schurigs Baga-tellen für Streichquartett füllen. Weder sind die vier Kompositionen mit Spieldauern zwischen sieben-einhalb und zehn Minuten beson-ders kurz, noch weisen die Satzbe-zeichnungen wie Sonatina, Scherzo oder Lied unmittelbar in die richti-ge Deutungsrichtung.
Der 1967 in Bludenz in Vorarl-berg geborene Wolfram Schurig komponiert seit Mitte der 1980er Jahre und versucht in seinen zahl-reichen Werken unterschiedlichster, meist kammermusikalischer Beset-zungen einer Art zeitgenössischen Musik nachzuspüren, die aus sich selbst heraus interessant ist – und nicht, weil sie in Opposition zu existierenden Traditionen steht oder versucht, eigene zu begründen.
Dieser Fokus scheint es mit sich zu bringen, dass Wolfram Schurig sehr detailreich komponiert und ihm innere Strukturen womöglich wichtiger sind als eine spektakuläre Oberfläche. Seine vier Bagatellen spielen geradezu mit kleinen musi-kalischen Keimzellen – einer Noten- reihe, einem ganz kurzen Motiv oder einem Zitat. Dabei dienen die Überschriften womöglich eher der Vergewisserung, sich in einer festen musikalischen Ordnung zu bewegen.
Das einleitende Ricercata möchte der Komponist als an eine frühbarocke freie Improvisations-form angelehnte Studie über eine achttönige Intervallfolge verstanden wissen, sein Scherzo verdichtet er aus einfachsten Tonfolgen zum Gravitationszentrum des Bagatellen-Zyklus. Das „Lied (senza paro-le)“ greift Robert Schumanns „Ich grolle nicht“ zwar auf, bildet aus seinen Melodiebestandteilen aber ganz neue, kammermusikalische Strukturen, und die Sonatina ist nicht nur spieltechnisch alles ande-re als ein harmloses kleines Finale. Auf der Grundlage einer Gruppe aus vier Tönen entwickelt Wolfram Schurig hier einen veritablen Strei-chersturm.
Je genauer Schurig seine klei-nen musikalischen Keimzellen durch die vier Instrumentalisten variieren und entwickeln lässt, desto mehr feine und feinste Strukturen scheint dieser Prozess zutage zu fördern. Gleichzeitig setzt dies aber auch un-geheure Energien frei, die sich in ei-ner hohen Dichte an Akzenten, bis-weilen vehementer Dynamik und einer großen klanglichen Auffäche-rung niederschlagen.
Wolfram Schurig packt in seine vier für die Bludenzer Tage zeitgemäßer Musik komponierten Bagatellen eine große Fülle von Tonmaterial hinein, für deren Beherrschung es eines hochklassigen Streichquartetts bedarf, das über die Distanz eines halben Konzertabends hinweg gestalterisch Vollgas geben kann.
Daniel Knödler