Hagedorn, Volker
Bachs Welt
Die Familiengeschichte eines Genies
Die Bachs waren eine verzweigte Musikerfamilie. Rund siebzig Verwandte haben ihre Spuren als Hof-, Stadt- oder Kirchenmusikant hinterlassen: Johann Sebastians Vater und Großvater ebenso wie zahlreiche Onkel, Großonkel und Cousins. Der Musikjournalist Volker Hagedorn erzählt die Geschichte dieser erstaunlichen Großfamilie, die vorwiegend im Thüringischen zuhause war. Mit gelegentlich allzu feuilletonistisch saloppem Plauderton schreibt er von Hochzeiten und Umzügen, Schicksalsschlägen und Beerdigungen.
Wo die Archive Lücken lassen, springt Hagedorn wagemutig ein: mit psychologisierender Einfühlung, romanhafter Fantasie und den Schilderungen von Zeitgenossen. Um etwa das Elend des Dreißigjährigen Kriegs zu schildern Missernten, Pest und plündernde Heere , zieht er Grimmelshausens Simplicissimus heran. Dessen drastische Beschreibungen dürften ohne Weiteres übertragbar sein auf Erfurt. Dort raffte die Pest 1682/83 fast zwei Drittel der Einwohner hin. Auch die Bachs hatten zahlreiche Opfer zu beklagen. Als Johann Sebastians Vater Ambrosius 1695 starb, stellt der Eisenacher Kantor Dedekind fest, der liebe Gott habe das Bachische Musicalische Geschlecht binnen wenig Jahren vertrocknet. Dass der Zehnjährige Johann Sebastian den Gegenbeweis antreten sollte, ahnte er freilich nicht.
Hagedorn beschränkt sich nicht auf Familiengeschichte, sondern breitet die Lebenswelt des 17. Jahrhunderts farbenreich aus. Der Leser erfährt von der hohen Kindersterblichkeit, der Einführung der Kartoffel und der Umstellung auf den Gregorianischen Kalender. Geschmeidig eingewoben sind allgemeinverständliche Exkurse über Musiktheorie, Instrumentenbau und Aufführungspraxis.
Schon früh hatten die Bachs ein Familienarchiv. Bereits Ambrosius begann, die Manuskripte der Vorfahren zu sammeln. Das sogenannte Altbachische Archiv wurde im frühen 18. Jahrhundert von der Berliner Singakademie erworben und liegt heute in der Berliner Staatsbibliothek. Wie es dorthin gelangt ist, erzählt das spannende Schlusskapitel des Buchs, ein Forschungskrimi, der 1943 im Berliner Bombenhagel seinen Ausgang nimmt. Nach Schlesien ausgelagert, geht die Notensammlung in den Nachkriegswirren verloren. Erst 1999 wird sie in Kiew wieder entdeckt.
Hagedorn hat sich nicht nur durch Archive gearbeitet, sondern besuchte auch die Wirkungsstätten der Bach-Familie. So schlägt der Autor einen Bogen in die Gegenwart. Er nimmt den Leser mit auf seine Forschungsreise, lässt ihn teilhaben an seiner Euphorie beim Aufspüren von Akteneinträgen und Notenblättern.
Hagedorn wendet sich an den Musikliebhaber; doch auch auf den Kenner dürfte seine originelle Kombination von Historie und heutigen Eindrücken ihren Reiz ausüben. Das Buch liest sich wie ein Schmöker, wirkt dabei jedoch nie unseriös, da die Übergänge zwischen Fiktion und historischen Quellen sorgfältig gekennzeichnet sind. Zudem belegt das umfangreiche Literatur- und Quellenverzeichnis den Anspruch des Autors.
Antje Rößler