Gardiner, John Eliot
Bach
Musik für die Himmelsburg. Aus dem Englischen von Richard Barth
Allein im deutschen Sprachraum gibt es derzeit rund 20 lieferbare Bücher über Johann Sebastian Bach, dicke und dünne, sehr viele sehr gute, einige grottenschlechte. Wozu also nun noch ein weiteres Buch über Bach? Angesichts der dürftigen Quellenlage kann dieses doch auch kaum mehr bieten als den Modus conditionalis: hätte, wäre, könnte. Das sind bei denen, die über Bach schreiben, notgedrungen stets die Kardinalvokabeln. Und das wird so lange so bleiben, bis sich nicht endlich der legendäre Dachbodenfund mit originalen Briefen aus Bachs Hand (oder Ähnlichem) einstellt.
Nun, Gardiners Ansatz ist ein anderer als bei den meisten anderen Autoren. Gardiner ist ein Mann der Praxis, der als Dirigent das gesamte Vokalwerk des Thomaskantors mit seinen Chören erarbeitet hat und es daher sozusagen von innen her kennt. Was ihn in die Lage versetzt, Bach von außen zu beschreiben. Auch dieses Verfahren ist nicht ganz neu, aber bei Gardiner eben doch ganz besonders. Er will nach eigenem Bekunden den bereits vorliegenden Biografien nicht noch eine weitere an die Seite stellen, auch wenn er um das rein Biografische nicht herumkommt. Dieses aber bettet er mit Geschick in die Zeitläufte ein, und mit diesem Kunstgriff wird das Bach-Bild zwar auch nicht vollständiger, aber eben doch etwas runder.
Seine hauptsächliche Quelle ist die Musik selbst. Sie ist der Fixpunkt, zu dem wir immer wieder zurückkommen können, die wichtigste Quelle, anhand derer wir Schlussfolgerungen über ihren Urheber erhärten oder entkräften können.
So setzt Gardiner beispielsweise die Bach-Kantate Wo Gott der Herr nicht bei uns hält BWV 178 in Beziehung zur Leipziger Obrigkeit und deren musikalische Ignoranz: Das ist großartige, aufbrausende, mit spürbarem Zorn gesättigte Musik, in der sich Bachs Wut auf pflichtvergessene Missetäter Bahn bricht. Man hat die Stadtältesten vor sich, wie sie auf den besten Plätzen sitzen und diese Tiraden über sich ergehen lassen [und wie sie] immer nervöser auf der Kirchenbank hin und her rutschen. Gardiner spricht von Schockmethoden, die Bach in seinen Kirchenkantaten entwickelte.
In seiner Substanz stellt Gardiners Buch eher einen (im Übrigen reich bebilderten) Bach-spezifischen Konzertführer dar, wenn auch auf deutlich höherem Niveau: Es enthält kluge und nicht überspannte Analysen einiger Kirchenkantaten, vor allem aber der beiden erhaltenen Passionen und der h-Moll-Messe. Dabei interpretiert Gardiner die Werke nicht nur aus ihrer Notensubstanz heraus, sondern gestattet sich manch tiefsinnigen Gedanken über die Arbeitsweise Johann Sebastian Bachs.
Gardiners schriftliches Opus magnum ist gewiss kein Buch für alle Bach-Verehrer. Aber diejenigen, die sich aktiv mit Bach auseinandersetzen, die Musiker und unter ihnen besonders die Vokalmusiker, werden es mit Gewinn lesen.
Friedemann Kluge