Bach-Visionen. Paganini in Chiesa

L’après-midi d’un altiste, 2 DVDs

Rubrik: DVDs
Verlag/Label: edition hera HERA02202
erschienen in: das Orchester 07-08/2011 , Seite 82

Wie verbringt ein Viola-Spieler seinen Nachmittag? Keine Frage, mit Bratsche spielen – in diesem Fall, laut Booklet zu dieser Doppel-DVD, in einer malerischen Dorfkirche am Plattensee. So macht es jedenfalls gemäß Untertitel Vidor Nagy, langjähriger Solobratscher aus Ungarn beim Stuttgarter Staatsorchester. Und er nutzt diesen Nachmittag dazu, streicherisch mit mehr oder minder großem Erfolg den Schnittpunkt oder, wie Ulrich Düner in einem etwas mühsam geratenen Einführungstext formuliert, die Mitte, den gemeinsamen Nenner zwischen Bach und Paganini zu finden.
Nagy porträtiert diese Suche mit Kamera und Mikrofon live in einem Kirchenraum ohne Besucher. Ausgewählt für seine experimentelle Suche hat er Werke, die im Original für Violine geschrieben wurden. Dies stellt den Bratschenspieler vor erhebliche, teilweise kaum erfüllbare Anforderungen. Größere Abstände für Bogen und linke Hand und schnelles Akkord- und Doppelgriffspiel bringen die Bratsche an die Schwelle des Potenzials zum Wohlklang und setzen auch einem versierten Spieler Grenzen, selbst bei in scheinbar interpretatorischer Absicht zurückgenommenen Tempi und breiter Agogik.
Um es vorwegzunehmen, Nagy verfügt über die Mittel, diese selbst für einen Violinisten höchst anspruchsvollen Werke auch auf der Bratsche zu präsentieren. Makellose Geläufigkeit bis in hohe Lagen, klangvolle Kantilenen und sicheres Doppelgriff-Spiel bilden die solide Basis für seine Interpretation. Alle Aufnahmen sind wohl in einem einzigen Take entstanden. So lassen sich die immer wieder unvermittelt auftretenden intonatorischen Unebenheiten und klanglichen Brüche erklären.
Die Intention der Annäherung an Bach wird deutlich durch die Präsentation von drei Versionen der berühmten Ciaconna aus Bachs Violinpartita BWV 1004. Der Solist geht dabei ein nicht unerhebliches Risiko ein, kennt der „geübte Hörer“, der zuweilen auch selber Spieler ist, in diesem Werk doch jeden Ton. So wirkt für den Rezensenten die dritte Version trotz gelegentlicher Unebenheiten am schlüssigsten. Technisch und gestalterisch am besten gelungen erscheint das zweite Bach’sche Werk, Adagio und Fuge aus der Sonate Nr. III BWV 1005, trotz auch hier gelegentlich auftretender Brüche.
Die zweite DVD ist einer Auswahl von Paganinis 24 Capriccen gewidmet. Die Auswahl erfolgte geschickt, sodass die klanglichen Möglichkeiten der Bratsche ausgezeichnet zur Geltung kommen können. Gerade hier zeigen sich jedoch auch die Grenzen des Instruments und der Spielbarkeit von Violinliteratur darauf. Schnelle fliegende Staccatostriche, schnelles Détaché mit ebensolchen Saitenwechseln und virtuoses Akkordspiel verschwinden oft im Geräusch. Agogische Dehnungen erwecken zuweilen den Eindruck, technisch und nicht interpretatorisch bedingt zu sein. Schade.
Uwe Gäb