Werke von York Bowen, Francis Poulenc, Jan Koetsier und anderen
Avantgarde
Adrián Díaz Martínez (Horn), Ikuko Odai (Klavier)
Der Titel dieser schönen CD führt zunächst in die Irre, denn Avantgarde im musikalischen Sinne ist darauf nicht zu finden – eher schon gut hörbare, selten gespielte und anspruchsvolle Literatur aus der ersten Hälfte und der Mitte des 20. Jahrhunderts.
Es ist die erste Aufnahme des jungen spanischen Hornisten Adrián Díaz Martínez, der damit aus dem Schatten des Orchesterdienstes tritt. Im normalen Leben ist Martínez tiefer Hornist im NDR Elbphilharmonie Orchester und damit nicht unbedingt prädestiniert für Soloaufnahmen. Er widerlegt aber eindrucksvoll das Klischee, tiefe Hornisten (die normalerweise die 2. oder 4. Stimme spielen) seien die schlechteren Musiker. Sie können besonders gut tiefe Töne spielen, natürlich, aber Hornisten wie Martínez können auch alles andere.
Was der Spanier gemeinsam mit der Pianistin Ikuko Odai da zusammengestellt hat, ist durchaus spannend. Zunächst die Bagatelle von Hermann Neuling (1897-1967), die hier tatsächlich zum ersten Mal auf CD verfügbar ist. Das ist einigermaßen kurios, denn sie ist ein gängiges Probespielstück für, ja, tiefe Hornisten. Auf YouTube findet man massenhaft Aufnahmen von ihr, jedoch nur selten in ordentlicher Qualität. Martínez’ Interpretation hat deshalb Referenzcharakter, auch weil sie dem Stück das Etüdenhafte austreibt. Er beherrscht das zum Teil sperrige Material souverän und lässt daraus Musik werden.
Zugleich ist der ehemalige Student von Marie-Luise Neunecker, was seinen Hornton angeht, alles andere als ein Sensibelchen: groß, gerade, mit viel Wumms und leicht dunklem Timbre spielt Martínez. Die Tiefe ist gewaltig, die Höhe erreicht er strahlend, wenn auch nicht immer mit vollendeter Eleganz.
Weiter zu hören ist die Elegie für Horn und Klavier von Francis Poulenc, die zwar original für diese Besetzung geschrieben wurde, aber fast schöner, entrückter mit Orgel klingt (vor allem in der historischen Aufnahme mit Peter Damm).
Sehr virtuos sind die Variationen op. 59/3 von Jan Koetsier (1911-2006), einem ehemaligen Kapellmeister des BR-Symphonieorchesters, der viele Werke für Horn und andere Blechblasinstrumente hinterlassen hat. Eine echte CD-Premiere dürfte die Hornsonate des englischen Komponisten York Bowen (1884-1961) sein, die alle Lagen ausleuchtet und sich zwischen den Extremen stürmisch und träumerisch bewegt – spätromantische Literatur. Der Vollständigkeit halber sei hinzugefügt, dass Bowen im Ersten Weltkrieg als Hornist bei der Schottischen Garde diente, sich ansonsten aber hauptsächlich dem Klavier widmete.
Erst vor wenigen Jahren wurde die belgische Komponistin Jane Vignery (1913-1974) entdeckt, die tragisch bei einem Zugunglück starb. Kurioserweise ist dies bereits die zweite Aufnahme ihrer Hornsonate, die innerhalb weniger Monate erscheint – ein weit ausgreifendes, enthusiastisches, packendes Werk, das Tillman Höfs auf seiner CD Air jedoch eine Spur eleganter und leichter als Adrián Díaz Martínez spielt.
Johannes Killyen