Schultz, Wolfgang-Andreas

Avantgarde, Trauma, Spiritualität

Vorstudien zu einer neuen Musikästhetik

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Schott, Mainz 2014
erschienen in: das Orchester 06/2014 , Seite 65

Eine „Vorstudie zu einer neuen Musikästhetik“ nennt der Hamburger Komponist Wolfgang-Andreas Schultz seine im Frühjahr 2014 erschienene Aufsatzsammlung – und stellt damit klar, dass das Eigentliche noch zu folgen habe. Zehn der nun von Tim Steinke neu herausgegebenen Aufsätze sind zwischen 2005 und 2012 schon an anderer Stelle erschienen; zwei Texte waren bislang unveröffentlicht. So stelle der Band ein „Zwischenergebnis“ seiner theoretischen Arbeit dar, schreibt Schultz.
Ausgangs- und Fluchtpunkt von Schultz’ Denken ist, dass durch „Musik eine Erfahrung des Heiligen“ zu machen sei. Alles Nachdenken und Urteilen über Musik ruht bei ihm auf dieser weltanschaulichen Prämisse. Geschichte im Allgemeinen versteht Schultz als „Bewusstseinsevolution“, Musikgeschichte im Besonderen betreibt er „unter dem Aspekt der spirituellen Entwicklung“. Das heißt, Epochen, Stile, Werke und ihre Komponisten werden in einen geschichtsphilosophischen Rahmen eingepasst, der u.a. dem Entwicklungsmodell des menschlichen Bewusstseins bei dem New-Age-Philosophen Ken Wilber verpflichtet ist. So korreliere die Entwicklung der Musik vom Mittelalter über Barock, Klassik bis zur Romantik mit dem „Wachsen der inneren Welt“.
Der entscheidende Bruch kommt für Schultz mit der Moderne, sie ist für ihn vor allem Ausdruck der „Traumata der beiden Weltkriege“. Die Erfahrung des Heiligen gehe hier zwischen Objektivität und Distanziertheit verloren. Heiligkeit erfahren könne nur, wer selbst psychisch gesund und integer sei. Die Integration aller menschenmöglichen Gefühlsbereiche, die Wiederherstellung einer Ganzheit, ist die Therapie, die Schultz für eine von ihm als pathologisch verstandene Moderne empfiehlt.
In diesem Sinn plädiert er für eine Postmoderne, in der alle Stile und Epochen gegenwärtig seien und die also eine Integration aller vorangegangenen Epochen leiste. Vorbilder für diese Vision einer „anderen Moderne“, die nicht der linearen Fortschrittsgeschichtsschreibung der Zweiten Wiener und der Darmstädter Schule folge, sieht er in Claude Debussy und György Ligeti. Debussys Integration historischer und exotischer Elemente in eine den tonalen Bezugsrahmen nie verlassende Musiksprache gilt ihm als Muster eines Pluralismus, der durch „historische Tiefe“ und „interkulturelle Breite“ bestimmt sei. Ligeti – genauer, der „restaurative“ Ligeti der Periode nach dem Horntrio von 1982 – verkörpere (mit Einschränkungen) eben dieses Ideal: „In seiner Musik begegnen sich Afrika, Indonesien, Mittelalter und Moderne.“ Allerdings berichtet Schultz auch, was sein Mentor Ligeti gegen Epochen und Kulturen übergreifende Musik-Retrospektiven in therapeutischer Absicht einzuwenden hatte: „Das haben wir alles schon einmal gehört.“
Ilja Stephan