Dagmar Glüxam
„Aus der Seele muss man spielen…“
Über die Affekttheorie in der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts und ihre Auswirkungen auf die Interpretation
Die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis hält viele spannende „Begegnungen“ bereit. Dagmar Glüxam beschreibt in ihrer wahrlich umfassenden Monografie zur Affekttheorie des 17. und 18. Jahrhunderts ein solches Zusammentreffen: auf der einen Seite die Idee, dass alle Musik – gleich ob instrumentaler oder vokaler Natur – von Affekten, also Gefühlen geleitet sei beziehungsweise diese darstelle –, und auf der anderen Seite die Frage, wie die ausführenden Musiker und Musikerinnen sich in diesem Kontext verhalten haben.
Wie „frei“ waren also die ausführenden Musiker:innen im Barock oder der frühen Klassik? Setzt man voraus, dass es ein umfassendes, allgemein akzeptiertes Verständnis bezüglich der jedem Musikstück zugrundeliegenden Affekte und ihrer adäquaten Darstellung gab, darf man dann überhaupt noch von ausübenden Künstler:innen sprechen?
In Dagmar Glüxams umfangreicher Darstellung der Quellenlage und anhand einer schier endlosen Zahl von Beispielen wird auch deutlich, warum die Affekttheorie (auch Affektenlehre genannt) gerade im 17. und 18. Jahrhundert die klassische Musik so offensichtlich prägte: Der Kanon anerkannter Formen wie Arie, Lied oder Sonate hatte sich herausgebildet und die Ausdrucksmöglichkeiten der modernen Instrumente erlaubten bei guter technischer Beherrschung eine Vielzahl von Klangfarben und Ausdrucksmitteln, die zur Darstellung gerade dieser Affekte oder Gefühle notwendig waren. Ein Virtuosentum, wie es dann das darauffolgende Jahrhundert erlebte, war im Kontext solcher „Konventionen“ natürlich (noch) nicht denkbar.
Dagmar Glüxams großartige Zusammenschau der verfügbaren schriftlichen Quellen aus Musiktheorie und -praxis ist ein Fundus, gerade für diejenigen, die sich mit historischer Aufführungspraxis auseinandersetzen, und bietet vermutlich die aktuell umfangreichste Darstellung zu diesem Thema. Die Autorin gibt vertiefte Einblicke in die Vielzahl der Affekte, wie sie mit musikalischen Mitteln dargestellt wurden (oder besser: dargestellt werden mussten). Aspekte wie Dynamik, Artikulation, Tempo, Rhythmus, Klangfarben oder das sehr spannende Thema der Verzierungen werden ebenso beleuchtet wie die Rolle der Tonarten, die so etwas wie die „Grundierung“ bezüglich einzelner Affekte bilden konnten.
Schon nach wenigen Kapiteln der Lektüre kann man den Eindruck gewinnen, hier werde ein in der Barockmusik und der frühen Klassik allgemein und umfassend verständliches, ja sogar unmittelbar abruf-
bares Wissen für Ausführende und Zuhörer:innen beschrieben, das weit über den Rang einer unverbindlichen Konvention hinausging.
Die direkt anschließende Frage nach der Treue der zeitgenössischen Wiedergabe vor dem Hintergrund einer solchen Theorie kann aber natürlich auch ein so umfangreiches Werk wie das von Dagmar Glüxam leider nicht endgültig beantworten.
Daniel Knödler