Bedřich Smetana

Aus Böhmens Hain und Flur

Urtext, hg. von Hugh MacDonald, Partitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Bärenreiter
erschienen in: das Orchester 01/2019 , Seite 65

„Gedanken und Gefühle beim Anblick der böhmischen Heimat“: Bedřich Smetana schlägt einen Bogen zur Grundidee der Pastoral-Sinfonie Beethovens – „Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei“ –, indem er seiner Sinfonischen Dichtung Aus Böhmens Hain und Flur diesen anti-lisztschen Untertitel mit auf den Weg gibt. Ungeachtet aller Bewunderung, die der Schöpfer der tschechischen Nationalmusik für den großen Kollegen hegte, knüpfen die sechs Teile von Smetanas Zyklus Mein Vaterland nur bedingt an die Programmmusik-Ästhetik Liszts an.
Smetanas Musik ist durchdrungen vom erwachenden Nationalgefühl des tschechischen Volks. Sie bildet indes weder Landschaften noch Heldentaten ab, sondern weckt mittels ihrer kompositorischen Faktur – insbesondere ihrer „Volkston“-Anleihen – Assoziationen an die Identität Böhmens und seiner Menschen, wobei uns der Titel in originalsprachlicher Form – Z českých luhů a hájů – einmal mehr an die Kuriosität erinnert, dass der Begriff „Böhmen“ in der tschechischen Sprache gar nicht existiert.  Ursprünglich sollte Aus Böhmens Hain und Flur, komponiert 1875, den Abschluss eines vierteiligen Vaterland-Zyklus bilden. Erst Jahre später fügte der mittlerweile von Ertaubung und Nervenleiden heimgesuchte Komponist die beiden letzten Sätze „Tabor“ und „Blanik“ hinzu.
Wie sehr Aus Böhmens Hain und Flur den böhmischen Nerv traf, zeigt folgende Uraufführungsrezension: „Das Werk eines wahren Dichters und zudem so rein patriotisch! Jedes Thema ist von so entschieden tschechischem Charakter, dass es uns vorkommt, als würden wir uns in jedem wie in einem Volkslied betrachten.“
Über Entstehungsverlauf und -hintergründe informiert Olga Mojžišovás Essay, der das Vorwort zur vorliegenden Urtextausgabe bildet. Offensichtlich wurden Smetanas Werke und Projekte um die Mitte der 1870er Jahre stets von großen Erwartungen begleitet. 1874 zwangen ihn gesundheitliche Gründe zum Rückzug aus der Öffentlichkeit, nachdem er über viele Jahre als Lehrer, Dirigent, Pianist und Musikkritiker wichtige Beiträge zu einem dezidiert tschechischen Musikleben in der Metropole Prag geleistet hatte. Erst jetzt fand er Zeit zur Ausarbeitung seines lange projektierten sinfonischen Hauptwerks.
Die vorliegende Urtextedition basiert auf Smetanas Autograf sowie auf der 1881 erschienenen ersten gedruckten Partitur. Weiterhin wurde Smetanas Bearbeitung für Klavier vierhändig zu Rate gezogen. Die verschiedenen Quellen lassen indes, so Herausgeber Hugh Mac­Donald, nur wenige Anzeichen von nachträglicher Überarbeitung erkennen. Der Bärenreiter-Verlag – Spezialist für tschechische Musik seit der legendären, in den 1970er Jahren gemeinsam mit dem staatlichen Verlag Supraphon unternommenen Janáček-Ausgabe – präsentiert mit dieser Partitur und dem parallel erschienenen Stimmenset ein schlechthin konkurrenzloses Material für dieses leider im Schatten der Moldau lebende, kompositorisch jedoch mindestens gleichwertige Meisterwerk Smetanas.
Gerhard Anders