Kirsten Liese
Bregenz: Aufwühlende Frauenschicksale
Puccinis „Madame Butterfly“ und Giordanos „Sibirien“ bei den Bregenzer Festspielen
Mit der Bregenzer Seebühne verbinden Opernfans traditionell imposante Schau- und Wow-Effekte – sie waren meist der Garant dafür, dass sich 7000 Plätze auf den Tribünen gut verkauften. Und bei den besten und gefragtesten Produktionen verbanden sie sich durchaus mit hohem Anspruch, denkt man nur an den unheimlichen Clown im Rigoletto.
Für Puccinis Madame Butterfly wagte man diesmal nun das Experiment einer weitaus schlichteren, reduzierteren Produktion, was auf den ersten Blick ernüchterte, aber wie abgestimmt wirkte auf ein Drama kammerspielartigen Zuschnitts mit wenigen Figuren. Allein ein zerknittertes, sich 23 Meter über den Bodensee erhebendes Stück Papier – das hauchdünn anmutete, wiewohl die Installation 300 Tonnen wog – zeigte die Bühne von Michael Levine. Darin spiegelte sich die starke Verletzbarkeit der Geisha Cio-Cio-San, deren Leidensgeschichte beginnt, als sie drei Jahre vergeblich auf ihren amerikanischen Ehemann Pinkerton wartet, der schließlich zwar nach Japan zurückkehrt, aber mit einer anderen Ehefrau und nur, um den gemeinsamen Sohn abzuholen.
Nicht spektakulär, dafür aber ungemein poetisch in der Reduktion wirkt die Inszenierung von Andreas Homoki, der mit stilisierten Bewegungen aus dem Kabuki-Theater die japanische Kultur des 19. Jahrhunderts einbindet, dies auch mit pittoresken Kalligrafien und zarten Tuschzeichnungen von Berglandschaften, die zeitweise auf das Papier projiziert werden. Und in der schönsten Szene, die wegen des Wetters im Festspielhaus fortgesetzt werden musste, stechen Butterflys Gefährtinnen mit ihren prächtigen
Kimonos und roten Sonnenschirmen (Kostüme: Antony McDonald) als starker Blickfang ins Auge.
Wie der Bodensee in die Produktion eingebunden wird, wenn im dritten Akt ein Kahn mit dem von Butterfly abgewiesenen Verehrer Yamadori vorbeizieht und ein Schiff aus Papier Pinkertons Rückkehr ankündigt, konnte die Rezensentin nur in der Fernsehübertragung der zweiten Aufführung sehen. In der finalen Szene züngeln sich am Rand des Papiers nach Butterflys Suizid Flammen empor, die sich am oberen Rand in echtes Feuer verwandeln.
Immerhin konnte das Publikum der Premiere, die wegen schlechten Wetters im Freien abgebrochen werden musste, im Festspielhaus farbliche und dynamische Nuancen hören, die sich über die viel gepriesene Tonanlage bei aller Hochwertigkeit eben doch nicht vermitteln. Das betraf den Orchesterklang, aber auch die Stimmen, die ohne den Einsatz von Microports im Raum viel schöner und natürlicher tönen.
Allen voran Barno Ismatullaeva aus Usbekistan empfahl sich in der Titelpartie mit ihrem gleichermaßen strahlenden, flexiblen Sopran und glutvollen Timbre als eine große Entdeckung. Annalisa Stroppa, deren Mezzosopran gleichfalls voll und warm leuchtete, wird wohl vor allem in Erinnerung damit bleiben, wie sie – nahezu permanent in Bewegung – weite, riesige Strecken auf der Bühne mit winzigen, mühsamen Trippelschrittchen zurücklegte.
Unter den männlichen Protagonisten gefiel Brian Mulligan mit seinem kräftigen, kernigen Bariton als jener Konsul Sharpless, der dem leichtsinnigen Pinkerton die Heirat mit der Geisha auszureden versucht. Eine eher schwächere Vorstellung gab Edgaras Montvidas als Schluri Pinkerton, dessen Tenor vor allem auf der Seebühne sehr eng tönte.
Eine nicht minder starke Frauentragödie zeigte Bregenz mit Umberto Giordanos Opernrarität Sibirien im Festspielhaus, die stärkste Produktion an diesem Ort in der 2024 endenden Ära Elisabeth Sobotkas, die dann an die Berliner Staatsoper wechselt. Vasily Barkhatov versteht sich in seiner Inszenierung darauf, mittels der Möglichkeiten des Kinos überzeugend eine Brücke zwischen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der die Handlung verortet ist, und einer jüngeren Vergangenheit Anfang der 1990er Jahre zu schlagen. Geschickt aus der Rückblende entwickelt er das Drama der Edelkurtisane Stephana, die ihrem Geliebten Vassili freiwillig in ein sibirisches Arbeitslager folgt, wo sie eine Familie gründen, bevor sie ums Leben kommen: Im Film fliegt eine alte Frau (Clarry Bartha) mit der Urne ihres verstorbenen Bruders von Mailand nach Sankt Petersburg, forscht in einem Archiv des russischen Gulags nach ihrer familiären Vergangenheit und fährt schließlich mit der Eisenbahn nach Sibirien, um die Asche in dem Arbeitslager zu verstreuen, wo die Eltern zu Tode kamen.
Das Geschehen ereignet sich auf Christian Schmidts Bühne an unterschiedlichen, stimmungsvollen Schauplätzen: einem mondänen Salon, einem St. Petersburger Archivsaal, in der Steppe und auf einem tristen Spielplatz zwischen Plattenbauten.
Die Partien waren überwiegend solide, aber nicht erstklassig besetzt. Am wenigsten überzeugte Ambur Braid als Stephana, die in den Spitzen mit Schärfen und allzu großem Vibrato sang. Trotz solcher Abstriche gelang ein ansprechender, spannender, großer Abend des Musiktheaters. Dies auch dank des Dirigenten Valentin Uryupin, der die Partitur am Pult der Wiener Symphoniker mit viel Verve zum Funkeln brachte.