Stenzl, Jürg

Auf der Suche nach Geschichte(n) der musikalischen Interpretation

Veröffentlichung aus der Abteilung Musik- und Tanzwissenschaft der Universität Salzburg, Bd. 7

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Königshausen & Neumann, Würzburg 2012
erschienen in: das Orchester 05/2013 , Seite 65

Gibt es eine Geschichte der musikalischen Interpretation? Der Musikwissenschaftler Jürg Stenzl beantwortet diese Frage mit einem mehr oder weniger klaren Nein – und deutet schon im Buchtitel an, dass es (bisher) wohl eher Geschichten der musikalischen Interpretation sind, willkürliche Ausschnitte gleichsam zum Thema, dessen Gesamtgeschichte erst noch geschrieben werden müsse. So manches Mal im Verlauf seines Textes scheint der Autor selbst zu staunen über die Tatsache, dass bisher so wenig Systematisches zu verzeichnen ist in einem musikalischen Bereich, der doch auf der Grundlage stetig wachsender Quellen Forschungsmaterial in Hülle und Fülle bereitstellt.
Im einleitenden Abschnitt seines Bandes, der eine großflächig redigierte Zusammenstellung früherer Veröffentlichungen darstellt, widmet sich Jürg Stenzl denn auch zunächst einmal der Frage, warum es bis zum heutigen Tag keine anerkannte Geschichte der musikalischen Interpretation gibt. Eine wesentliche Antwort sieht der in Salzburg forschende Musikhistoriker in der Tatsache, dass erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr die von Komponisten neu vorgestellten Werke, sondern der „Kanon“ eines allgemein anerkannten Repertoires das Zentrum öffentlicher musikalischer Aufführungen bildet. Und wo es um die Wiedergabe des immer Gleichen geht, kann (und muss, laut Stenzl) das vermeintlich immer Gleiche, wenn es sich eben hinsichtlich der Interpretation doch unterscheidet, zum Forschungsgegenstand werden.
Doch wie ist es um die Systematik einer solchen Forschungsrichtung als Teil der Musikwissenschaft bestellt? Welches sind die Werkzeuge? Und wo finden sich die lohnendsten Untersuchsfelder? Nicht auf alle diese Fragen weiß Jürg Stenzl (heute schon) eine überzeugende Antwort. Vielmehr geht es ihm um die Werbung dafür, ein solches Feld der Forschung systematisch zu erschließen. Seine Beispiele – ob zu Beethoven, Debussy oder dem äußerst lesenswerten Kapitel zu Monteverdi – zeigen sinnfällig auf, wie sehr eine Geschichtsschreibung der musikalischen Interpretation noch in den Kinderschuhen steckt, wie vernachlässigt zentrale Fragestellungen z.B. im Vergleich zur weitaus fortgeschritteneren Rezeptionsgeschichte sind. Doch auch der Autor selbst, der ohne Zweifel überzeugende Argumente zum konsequenten Ausbau dieser Fachrichtung findet, tut sich schwer, den Forschungsgegenstand ganzheitlich zu fassen. Tempovergleiche auf der Basis von Tonaufnahmen können nur ein Mosaikstein sein. Das Gesamtbild einer Geschichte der musikalischen Interpretation muss beispielsweise auch Aspekte wie Klangästhetik und kommerzielle Fragestellungen berücksichtigen. Gerade im Zusammenhang mit dem von Stenzl viel untersuchten Schaffen Karajans darf man hier spannende Forschungsresultate vermuten.
Daniel Knödler