Anke Steinbeck (Hg.)
Auf der Suche nach dem Ungehörten
Improvisation und Interpretation in der musikalischen Praxis der Gegenwart
Herausgeberin des vorliegenden Bandes ist Anke Steinbeck, Musikwissenschaftlerin mit vielfältiger Praxiserfahrung im klassischen Orchesterbetrieb und seit 2014 Projektleiterin beim Jazzfest Bonn. In ihren Büchern beschäftigt sie sich vor allem mit kulturpolitischen Themen im Wandel der Zeit. Mit Fantasieren nach Beethoven legte sie den ersten Band zum Thema Improvisation im heutigen Musikbetrieb vor.
Im vorliegenden Fortsetzungsband wird die allgegenwärtige Tendenz zur Auflösung vermeintlicher Grenzen zwischen E- und U- Musik in den Fokus gerückt. Dabei geht es vor allen Dingen um die Frage nach Gemeinsamkeiten, Unterschieden und Überlappungen in den Bereichen Interpretation und Improvisation. Allein die überkommene Begifflichkeit E- und U‑Musik verweist dabei auf einen seit Jahren bestehenden Prozess der kulturellen Öffnung, Fusion und Veränderungen in der Wahrnehmung, sei es unter Musikern, Rezipienten oder bei Veranstaltern.
Das Buch vereint neben Steinbecks überblickhafter Einleitung „Neues schaffen zwischen Form und Spontaneität“ Interviews mit Prominenten der Jazz- und Klassikszene, aus dem Bereich des Veranstaltungswesens, aus Politik und Medizin. Mit der Geigerin Anne-Sophie Mutter spricht die Herausgeberin darüber, wie wichtig selbstständiges Denken für eine adäquate und vor allem lebendige Interpretation sogenannter klassischer Musik ist, ein Geschäft, in dem fälschlicherweise perfektes Funktionieren einen unangemessen hohen Stellenwert hat. Selbst Mutter seufzt ganz offenherzig darüber, wie oft sie sich im Konzert einfach nur tödlich langweilt und was man dagegen tun kann. So betont sie den notwendig kreativen Umgang mit Partituren, die man keinesfalls als Dogma lesen sollte. Auch über die Bedeutung von Intonation im Sinne interpretatorischer Freiheit spricht sie.
Für neue Veranstaltungsformate, Konzertdesign und eine Subkultur innerhalb der Klassik plädiert auch der Cellist und Gründer des Festivals „Podium Esslingen“, Steven Walter. Er ist der Ansicht, dass die Qualität intimer Räume der Musik früherer Jahrhunderte viel von einem ihr innewohnenden Wirkungspotenzial zurückgibt, das sie in riesigen Konzerthallen nicht auf diese Weise entfalten kann. Der hoch gefeierte Jazzpianist Michael Wollny spricht über musikalische Kommunikation in Klassik und Jazzformationen, die er beide aus eigener Erfahrung kennt, und verweist auf die hier erlebten Ähnlichkeiten. Warum Gehirne von Jazz-und Klassikpianisten unterschiedlich ticken, erfährt man im Interview mit Daniela Sammler vom Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften.
Die Interviews „Zu Fragen der Improvisation und Interpretation in der musikalischen Praxis der Gegenwart“ verbleiben in der Qualität des Mündlichen, sind im Plauderton gehalten und leicht lesbar. Man könnte sie als Bestandsaufnahmen, relevante Materialsammlung zu Fragen einer musikgesellschaftlichen Befindlichkeit zum gegenwärtigen Zeitpunkt betrachten.
Anja Kleinmichel