Chaslin, Frédéric

Auf der Suche nach dem neuen Klang

Zeitgenössische Musik seit Johann Sebastian Bach

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Böhlau, Wien 2011
erschienen in: das Orchester 10/2012 , Seite 59

Vor allem der Untertitel macht neugierig: „Zeitgenössische Musik seit Johann Sebastian Bach“. Gab es zuvor keine aktuelle Musik? Wird hier Bach als Maß aller Dinge beansprucht? Wie wird dieses Postulat legitimiert? Antworten sucht man freilich vergebens – vielleicht findet man sie eher im Titel der 2009 erschienenen französischen Originalfassung, der den weit aufgefächerten Inhalt besser wiedergibt – La Musique dans tous les sens (Musik in jeder Hinsicht) – und ohne weiteren Zusatz auskommt. Er entspricht denn auch eher dem Duktus dieser streitbaren Schrift, mit der sich Frédéric Chaslin, 1963 in Paris geboren und derzeit Musikdirektor der Oper in Santa Fé wie auch des Sinfonieorchesters Jerusalem, positioniert. In fünf mehrfach unterteilten Kapiteln geht er darin der Frage nach, was uns an der Musik fasziniert, und begleitet uns „auf einem launig-humorvollen, mitunter provokanten Initiationsweg in die Welt der Töne und Harmonien“ (Klappentext).
Dieser Weg ist bisweilen freilich etwas beschwerlich. Etwas davon mag schon die Überschrift „Von Pythagoras zur Stringtheorie“ zeigen, hinter der sich nicht nur ein Exkurs über die Intervallproportionen verbirgt (allerdings ohne den notwendigen, da erläuternden Hinweis auf die Musik als Teil des universitären Quadriviums), sondern auch die Darstellung des Goldenen Schnitts und der damit verbundene obligatorische Hinweis auf Bartóks Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta. An anderen Stellen irritiert die Einbeziehung historischer Ereignisse oder gar manch seltsam belesen anmutender, aus dem Zettelkasten stammender Verweis (etwa S. 165 auf Umberto Eco und François Florand). Hier scheint dann auch eine andersartige kulturelle und literarische Sozialisation auf, die andere, mitunter anregende Denkmodelle hervorgerufen hat.
Spannender liest sich die „Kleine Geschichte der Moderne à la française“ als eine offenherzige Innenschau, die gar hochexplosiven Sprengstoff bietet – wenn etwa Pierre Boulez’ scharfkantiges, komplexes Denken dekonstruiert, die damit verbundene „Hybridsprache“ lustvoll „dekodiert“ wird: „Das Gebot der Stunde lautet, die musikalische Welt benommen zu machen und mit komplexen Äußerungen zu bombardieren, deren Inhalt im Grunde ganz einfach ist, und gleichzeitig die neue politische und philosophische Elite, stets erpicht auf einen respektheischenden Fachjargon, zu beeindrucken und zu beweisen, dass man dieselbe Sprache spricht wie sie, dass man aus demselben Holz geschnitzt ist“ (S. 192). Eine auf wenigen Seiten vollzogene Generalabrechnung, die in mancher Weise an Boulez’
eigenen Essay Schönberg est mort erinnert (Chaslin war 1991/92 dessen Assistent im Ensemble Intercontemporain).
Die hochkarätige Übersetzung von Ulrike Kolb schließt auch sprachlich erläuternde Anmerkungen mit ein, und dies nicht nur in den nachweisenden Endnoten oder im knappen Glossar.
Michael Kube