Rihm, Wolfgang

Astralis

Choral Works

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Harmonia Mundi HMC 902129
erschienen in: das Orchester 09/2012 , Seite 79

Pünktlich zum 60. Wiegenfest ehrt der RIAS Kammerchor Wolfgang Rihm mit mustergültigen Einspielungen zweier Passions-Chöre und dem dritten Stück aus dem Zyklus Über die Linie. In seinem Geleitwort spricht Hans-Christoph Rademann vom „Taumel des Verstehens“, in den ihn Rihms „betörend fragile, sinnliche Musik“ gestürzt habe. Den Damen und Herren des RIAS Kammerchors ist es anzuhören: Nur wer das Wechselbad von Annährung und Entfernung durchsteht, dem erschließt sich das Geheimnis seiner Tonkunst.
Diese Edition stellt eine wichtige Ergänzung zu Rihms Passions-Stücken nach Lukas dar, die 2001 unter dem Titel Deus Passus erschienen: Frucht des Projekts „Passion 2000“ der Bachakademie Stuttgart, das der Menschheit im 250. Todesjahr Bachs zudem eine Johannes-Passion von Sofia Gubaidulina, eine Markus-Passion von Osvaldo Golijov und eine Waterpassion nach Matthäus von Tan Dun bescherte. Indem Rihm außer Dialogen des Lukas-Evangeliums in Luthers Übersetzung und Texten der katholischen Karwochen-Liturgie auch das ungeheuerliche Gebet Tenebrae von Paul Celan einbezog, schuf er ein quasi ökumenisches Mahnmal des Leidens an der Welt. Die vorliegende Edition seiner zuvor und hernach entstandenen Passionsmusiken vervollkommnet das Bild eines Komponisten, der schon 1968 nach alter Meister Art und zugleich auf neutönend bruchstückhafte Weise den Passionsberichten der vier Evangelisten nachschürfte. Fragmenta passionis nannte der eben Sechzehnjährige seine fünf Motetten für gemischten Chor a cappella.
Kopflos und zerstückelt klingt die erste Motette Da verließen ihn alle und flohen. Die pöbelhaft teuflische Brüll- und Schreiszene „Kreuzige ihn!“, vom RIAS Kammerchor drastisch gesteigert, erinnert unwillkürlich an die Aufhetzung der Volksmassen zur Nazizeit. Vielstimmig aufgefächert Jesu letzter Schrei, bevor er seinen Geist aushaucht. Verwegen die Selbstsicherheit, mit der sich der junge Rihm dem Sog Bachs entzieht, wenn im Volk die Erkenntnis aufblitzt: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen.“
Trotz des enormen Reifeprozesses, der die frühen Motetten von den bald vierzig Jahre später entstandenen Sieben Passions-Texten für sechs Stimmen trennt, hat sich die Nähe zu den alten Meistern erhalten. Die Stimmenverteilung entspricht Palestrinas Missa Papae Marcelli, im „Kosmos der subtilen Zusammenklänge“ (Rademann) wohnt der Geist eines Gesualdo da Venosa. Wenn der Tempelvorhang reißt, die Erde erbebt,
Felsen sich spalten und Gräber sich auftun, stockt den Stimmen der Atem. Stechend der Schmerz der Weinenden, bevor die Gewalt des Satans lauthals zerbricht. In den Bässen aber hinterbleiben die Schatten des Todes…
„Die Welt wird Traum, der Traum wird Welt“, raunt Astralis, ein rätselhaftes Wesen, im Romanfragment Heinrich von Ofterdingen von Novalis. Ihr Prolog führt „über die Linie“, die der Chor in Rihms halbstündigem Chorwerk Astralis (2001) „so leise und langsam wie möglich“ queren soll. Um die richtige sängerische Einstellung zu finden, müssten sich Atemstrom und Geist erst beruhigen, notiert Rademann dazu. Unter seiner Leitung bringt der RIAS Kammerchor die blaue Blume wundersam zum Blühen.
Lutz Lesle