Suk, Josef

Asrael

Essener Philharmoniker, Ltg. TomᚠNetopil

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Oehms Classic
erschienen in: das Orchester 11/2017 , Seite 64

Der Todesengel schlug bei Josef Suk zweimal kurz hintereinander zu. Erst nahm er ihm seinen Schwiegervater und Lehrer, Antonín Dvorák, kurz darauf seine Ehefrau Otylka. Der Engel des Todes Asrael/Azrael ist in der islamischen Traditionsliteratur einer der vier Erzengel. Zum Gedenken an die beiden geliebten Menschen verfasste Suk seine große fünfsätzige Sinfonie op. 27, eine Art „instrumentales Requiem“, dem er den Namen des Todesengels gab.
Diese Komposition ist wegen ihrer enormen Ausmaße als Suks Hauptwerk anzusehen. Sie enthält so ziemlich alles, was sich an Emotionen in Noten fassen lässt: Die schärfsten Dissonanzen wechseln mit geradezu lieblicher Gesanglichkeit, Fortissimi werden von zartesten Pianissimi abgelöst, todesschwere Düsternis – wie wir sie im 20. Jahrhundert erst bei dem schwedischen Sinfoniker Allan Pettersson wiederfinden – verwandelt sich urplötzlich in ein strahlendes, Hoffnung verströmendes C-Dur.
Suk hat es verstanden, in sein Werk neben aller Trauer, neben aller Wut und Verzweiflung auch dankbare Erinnerung einfließen zu lassen (was sich im Falle Dvorák unter anderem in einem Zitat aus dessen Requiem niederschlägt). Äußerst frappierend ist die „Modernität“ dieser dem Zeitschema nach doch eigentlich der Spätromantik zuzurechnenden Sinfonie. Vereinzelte Assoziationen zur Musikwelt Gustav Mahlers sind trotz durchaus eigener ästhetischer Lösungen unüberhörbar.
Bedauerlicherweise ist diese Sinfonie in den Konzertprogrammen bis heute weit unterrepräsentiert bzw. kommt erst gar nicht vor. Die Erklärung dafür liegt auf der Hand: Dieses Mammutwerk ist mit seinen immensen Schwierigkeiten (auch darin wieder Allan Pettersson zu vergleichen) gewissermaßen eine Pièce de Résistance und als solche von den meisten Klangkörpern schlicht nicht zu bewältigen!
Womit wir bei den Essener Philharmonikern und ihrer Interpretation wären. Unter der Leitung ihres Chefdirigenten, des bekennenden SukJüngers TomᚠNetopil, erweisen sie sich als eines der zurzeit besten deutschen Orchester. Bei aller Tragik der Vorlage verlieren sie sich nicht einen Augenblick lang in Sentimentalität. Der Kenner Netopil versteht es, der Partitur manch überraschendes Detail zu entlocken. Seine Essener spielen diese Musik nicht nur präzise und transparent, sondern geradezu wie in einem Rausch und auf höchstem Niveau.
Das Beiheft zur CD ist auffallend dünn, was aber daran liegen mag, dass der Text nur zweisprachig und nicht, wie gewöhnlich, dreisprachig daherkommt. In dieser Kürze enthält es aber alles, was zur Sinfonie und zu den Interpreten wichtig zu wissen bzw. interessant zu erfahren ist. Die Entstehungsgeschichte der Sinfonie wird ebenso behandelt wie deren spätere Redaktionen, und auch über die Interpreten erfahren wir alles, was wir erfahren möchten.
Für die Liebhaber der „großen“ Sinfonik ist diese Aufnahme ein Muss: eine Referenzaufnahme comme il faut!
Friedemann Kluge