Antonio Salieri

Armida

Les Talents Lyriques, Ltg. Christophe Rousset

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Aparté
erschienen in: das Orchester 07-08/2021 , Seite 69

Eine berühmte Episode aus Torquato Tassos Ritterepos Das befreite Jerusalem schildert den seelischen Konflikt der Magierin Armida, die den Kreuzfahrer Rinaldo liebt und ihn auf ihrer Zauberinsel gefangen hält, bis dessen Gefährte Ubaldo ihn aus diesem Bann befreit. In ihrem Schmerz sinnt Armida auf Rache.
Der Stoff hat mit seiner Mischung aus Liebe und Leidenschaft, heroischer Allüre und emotionaler Hitze vor allem im 17. und 18. Jahrhundert viele Bearbeiter gefunden: von Monteverdi und Lully über Händel und Vivaldi, Graun und Gluck bis Rossini und Cherubini, danach auch Dvořák (1904) und die britische Komponistin Judith Weir (2005). In dieser langen Reihe geriet Salieris Armida ein wenig in Vergessenheit, obwohl der junge Komponist 1771 mit dem damals hochmodernen Stück Aufsehen erregte und großen Erfolg hatte – folgte er in seiner Musik doch teilweise schon den Anregungen seines Mentors Gluck für eine Reform des Musiktheaters.
Die längst überfällige Ersteinspielung des Werks, die jetzt unter der kundigen Direktion des Salieri-Spezialisten Christophe Rousset herauskam, füllt hier eine Lücke. Zusammen mit dem engagiert und beweglich musizierenden Ensemble Les Talents Lyriques bringt der Dirigent neben den Vorzügen auch die Novitäten der Partitur eindringlich zur Geltung – etwa in der einleitenden Sinfonia, die über die übliche Beliebigkeit der bloßen Ouvertüre hinaus die Vorgeschichte und Stimmung des Geschehens musikalisch ausmalt oder in der weitgehenden Ablösung von einzelnen Rezitativen und Arien durch durchkomponierte Einheiten.
Bei allen kompositorischen Neuerungen bietet Armida überdies musikalische sowie sängerische Kostbarkeiten von großer Farbigkeit und Virtuosität – etwa wenn in der Rachearie Armidas der Einsatz von Posaunen ungewöhnliche Akzente setzt, wenn das Orchester das Idyll der Liebesinsel zu einem „höchst magischen Stück“ verklärt oder wenn im zentralen Terzett der Protagonisten deren unterschiedliche Empfindungen souverän abgesetzt und von kolorierenden Instrumentenstimmen differenziert werden.
Salieris Gratwanderung zwischen Opera seria und Reformoper erfordert ein Solisten-Ensemble von hoher Kompetenz. Die Vorzüge dieser Armida-Produktion liegen denn auch nicht zuletzt in der glänzenden Besetzung. In der anspruchsvollen Titelpartie absolviert die Sopranistin Lenneke Ruiten die vokalen Wechselbäder zwischen Raserei und Innigkeit mit überzeugender Geläufigkeit und Vehemenz. Neben ihr hebt Florie Valiquette (ebenfalls Sopran!) den verwirrten Rinaldo in seinen vokalen Katarakten mit wirkungsvollem Profil ab. Dem Ubaldo verleiht Ashley Riches die Autorität seines markanten Baritons, und als gestrenge Armida-Vertraute Ismene dient ihm Teresa Iervolino (Mezzosopran) als beherzter Widerpart.
Salieri hat mehr als vierzig Opern geschrieben. Diese gelungene Einspielung macht neugierig auf weitere Entdeckungen in einer wachsenden Diskografie seiner lange unterschätzten Werke.
Rüdiger Krohn