Aribert Reimann

7 Bagatellen

für Streichquartett, Partitur und Stimmen

Rubrik: Musik
Verlag/Label: Schott, Mainz 2018
erschienen in: das Orchester 05/2019 , Seite 61

Aribert Reimann hat für einen Komponisten seines Kalibers einen auffallend großen Bogen um die kammermusikalische „Königsdisziplin“ Streichquartett gemacht. Mit den Miniaturen (2004-2006) und dem Adagio – zum Gedenken an Robert Schumann (2006) verzeichnet das Œuvre nur ganze zwei relativ schmal dimensionierte Gattungsbeiträge. Demgegenüber steht eine stattliche Reihe von Bearbeitungen, in denen der Liedkomponist Reimann eine Gesangstimme mit dem Streichquartett verbindet, um Liedern von Schumann, Schubert, Mendelssohn Bartholdy, Brahms und Liszt eine neue erweiterte Klanglichkeit zu verleihen. „Mit dem Streichquartett kann man aufdecken, was sich hinter den Liedern befindet“, verriet der Komponist.
Die dem Kuss Quartett gewidmeten 7 Bagatellen (2017) nehmen eine Zwischenstellung zwischen diesen beiden Polen von Reimanns Streichquartett-Kompositionen ein: Sie kamen zur Uraufführung im Rahmen des Zyklus Die schönen Augen der Frühlingsnacht!, Sechs Lieder von Theodor Kirchner nach Gedichten von Heinrich Heine,
bearbeitet für Sopran und Streichquartett (2017), und wurden als instrumentale Zwischen-, Vor- und Nachspiele der Lieder konzipiert. Dazu Reimann: „Die Bagatellen können auch als eigenständige Komposition gespielt werden, enthalten aber subtile Bezüge zu Kirchners Liedern, so dass sie nicht ganz im luftleeren Raum stehen. Manchmal ist das eine Geste, ein Akkord oder sogar ein einzelner Ton.“ Prinzipiell erweitern die aphoristischen Sätze das romantische Liedmaterial um expressive Klangtechniken der Moderne, wie wir sie beispielsweise schon in Bergs Lyrischer Suite (1926) vorfinden.
Die rund neunminütigen Bagatellen beginnen mit auf- und abwogenden chromatischen Klangbändern im Wechsel von ordinario– und sul ponticello-Spiel. Der enge Ton-Ambitus ist signifikant: Im gesamten Stück begegnen uns fast ausschließlich Sekundschritte und Terzsprünge bei großer motivischer Vereinheitlichung aller Sätze. Die Cluster-Ästhetik wird im zweiten Satz weiter verfeinert durch wellenförmige Kleinst-Glissandi, während in der dritten Bagatelle eine Violinen-Kantilene in den Vordergrund rückt, die eine raumgreifende Abwärtsbewegung über chromatischen Tremolo-Figuren konstituiert.
Extrem hohe Lagen con sordino prägen die eigentümliche Klangcharakteristik der Bagatelle IV, die, auffallend homophon im Satz, melodische Bewegungen immer wieder auseinanderreißt. Der gespenstische Charakter setzt sich fort in der fünften Bagatelle, wo sich die Violine über dünnhäutige Flageolett- und sul ponticello-Klänge in ätherische Höhen aufschwingt. Eine expressive Verdichtung des musikalischen Satzes bringt die sechste Bagatelle mit größeren Intervallsprüngen und scharfen dynamischen Kontrasten. Die Sforzati im letzten Takt weisen voraus auf die schroffe Gestik des letzten Satzes: Tremolierende Sept-Intervalle im ff wechseln mit peitschenden Pizzicato-Schlägen im rhythmischen Unisono, bevor die Violinen in gleißenden Höhen verharren.

Dirk Wieschollek