Jörg Widmann

Arche

Oratorio for solists, choirs, organ and orchestra, Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Ltg. Kent Nagano

Rubrik: CDs
Verlag/Label: ECM
erschienen in: das Orchester 03/2019 , Seite 71

Überwältigend. Gigantisch. Spektakulär. Ergreifend. So lauten nur einige Ausrufe im Rückblick auf das Eröffnungskonzert der Hamburger Elbphilharmonie im Januar 2017. Berauschend und überwältigend ist dieses abendfüllende Oratorium, das nun in einem Livemitschnitt zu hören ist, tatsächlich. Und eigentlich ist damit auch das wichtigste schon gesagt.
Rückblick. Ein einziges abendfüllendes Werk wollten die Hamburger für die Eröffnung ihrer neuen Philharmonie haben, ein Werk, das in die Zukunft weist, das den Bau von Anfang prägen sollte. Ein Kompositionsauftrag, der Jörg Widmann zu Beginn etwas ratlos zurückließ. Erst nach seinem Besuch der Elbphilharmonie noch im Bau klärte sich das Bild: „Von außen gleicht das Gebäude einem Schiff … Das Innere habe ich wie den Schiffsbauch einer Arche empfunden … Wieder im Tageslicht angelangt, ließ mich die Arche-Idee nicht mehr los. Der Ton dieser zu komponierenden Musik war mir ganz deutlich, als ich den Raum verließ.“ Und so entstand dieses Oratorium in fünf Teilen, in dem Jörg Widmann durch mehr als 3000-Jahre Kultur- und 300 Jahre Musikgeschichte streift. Ein Auftragswerk also, bei der der Konzertraum direkt Einfluss nahm auf das Werk, das aber doch über weit Anlass seiner Entstehung hinaus reicht.
Schon die äußere Anlage mit großem Orchester, Orgel und dem reich besetzten Chor plus Soli knüpft an die Traditionen der Oratorien des 19. Jahrhunderts an. In den fünf Teilen (Es werde Licht – Sintflut – Die Liebe – Dies irae – Dona nobis pacem) streift Widmann munter durch so manche Vorbilder. Klar, dass am Anfang die Schöpfungsgeschichte der Genesis durch rau wehende Klangflächen sich entwickelt. Dagegen stellt Widmann archaisch daherkommenden Choralklänge, die mal die Gregorianik, mal Pepping oder Distler durchscheinen lassen, immer vorwärts getrieben durch zwei Kinderstimmen als Erzähler und Kommentatoren. Was zuerst wie das stereotype Bemühen sattsam bekannter Klischees anmutet (die unschuldigen Kinder) entpuppt sich schnell als gekonnter und augenzwinkernder Zug. Widmann spielt mit den unterschwelligen Erwartungen der Hörer und führt sie doch liebevoll immer auf Glatteis.
Allein schon die Auswahl der Texte lässt schmunzeln; da reihen sich neben die biblischen Erzählungen und den Kanon aus der Eucharistie und der Totenfeier Texte von Brentano, Klabund, Schiller, Claudius und den Philosophen Slotterdijk und Nietzsche, um nur einige zu nennen. Aber Widmann ist kein Schelm – trotz der gleichfalls zum Schmunzeln einladenden Einlagen mit Chansons im Stil der goldenen 20er Jahre, trotz Wortspielen und Situationswitz: Seine abrupten Brüche in den Klangcollagen, die sattsam Bekanntes in völlig neue Kontexte stellt, verändert das Hören. Scheinbar Vertrautes wird neu entdeckt, Neues scheint vertraut. Und so nimmt Widmann seine Hörer an die Hand und öffnet ihnen neue Horizonte. Arche ist ein Oratorium, das im besten Sinne Grenzen überschreitet und neue Welten zeigt.
Markus Roschinski