Antonio Vivaldi

Il Giustino

Accademia Bizantina, Ltg. Otavio Dantone, 3 CDs

Rubrik: CD
Verlag/Label: Naïve OP30571
erschienen in: das Orchester 05/2019 , Seite 62

Il Giustino verfasste Niccolò Beregan (Nicolò Beregani) im Jahr 1683. Die Handlung des verworrenen byzantinischen Spektakels mit Göttern und Dämonen ist wesentlich vor ihrem historischen Hintergrund zu verstehen: die Angst vor der drohenden Türkengefahr, die Venedig und Wien verbindet.
Nicht nur Antonio Vivaldi hat den Stoff zu dem Dramma per musica – es handelt sich um eine ganz andere Arianna-Oper – vertont: Zuvor waren es beispielsweise Giovanni Legrenzi, Luigi Mancia oder Georg Friedrich Händel. Das von Albinoni verwendete Libretto war für Vivaldi die Vorlage. Auch Domenico Scarlatti werden Einlagen zugesprochen. Vivaldi hat für seine römische Oper 1724 aber nicht nur auf die routinierte Musik seiner „Vier Jahreszeiten“ zurückgegriffen. Mehrfach sind Parodien seiner und fremder Werke eingebaut, wie es dem Stil der Zeit entsprach.
Eindrucksvoll und facettenreich gestaltet die Accademia Bizantina unter der Leitung von Ottavio Dantone die Musik. Hervorzuheben ist das außergewöhnliche Instrumentarium (darunter ein solistisches Psalterium), das die lange dreiaktige Oper zum spannenden und abwechslungsreichen Hörgenuss werden lässt. Nicht weniger farbenreich, vielmehr individuell und kontrastreich interpretieren die hervorragenden Sängerinnen ihre Partien: die Vivaldi-Expertin Delphine Galou als Giustino, die Händel-Spezialistin Emőke Baráth als Arianna, Silke Gäng, die in Vivaldis Juditha triumphans brillierte, als Anastasio und Verónica Cangemi, die in Monteverdis L’incoronazione di Poppea überzeugte, als Leocasta. Ebenfalls vom Monteverdi-Fach kommt Emiliano Gonzalez Toro als Vitaliano. Arianna Vendittellis Erfahrung auch mit entlegenem Repertoire kommt ihrer Gestaltung des Amanzio zu Gute. Alessandro Giangrande beherrscht zwei Stimmfächer: Als Andonico singt er Altus und als Polidarte Tenor. Auch Rahel Maas hat mit Vivaldis Motezuma bereits fundierte Erfahrung und überzeugt als Fortuna.
Dem künstlerischen Leiter und mittlerweile über Fachkreise hinaus bekannten Experten in seinem Fach, Ottavio Dantone, ist es gelungen, diese Barockoper vor allem in ihrer Unterhaltsamkeit, Märchenhaftigkeit und Neuartigkeit wiederzuentdecken. Historische Aufführungspraxis scheint ihm weniger ein akademisches oder museales Vergnügen, vielmehr ist es Abenteuer pur, was wiederum Puristen hinterfragen mögen. Wesentlich zum Hörgenuss tragen allerdings die außerordentlich fantasievoll und aufwendigst gestalteten Da-capo-Verzierungen bei, die Ottavio Dantone der Sängerkunst nicht allein überlässt, sondern mit viel Kunstfertigkeit und eigenem Gespür für jedes Detail zum reinen Notentext nach der Edition des Vivaldi-Kenners Reinhard Strohm noch selbst „hinzukomponiert“ hat.
Mit dieser Aufnahme liegt – neben einer weiteren Opernrarität und der Wiederentdeckung des Opernkomponisten Vivaldi – für die experimentierfreudige Aufführungspraxis der ausladenden Barockoper ein weiterer stilprägender Beweis ihrer Brisanz und Aktualität im heutigen Musikleben vor.

Iris Hildegard Winkler