Hans-Jürgen Gaudeck/Roman Hinke
Antonio Vivaldi: Die vier Jahreszeiten
Von heiterem Gesang der Vögel im Frühling, von der lastenden Hitze der Sonne im Sommer, von Tanz und Gesang der Bauern im Herbst und von krachendem, brechendem Eis im Winter handeln „Die vier Jahreszeiten“ (1725) von Antonio Vivaldi. Woher wir das wissen? Allen vier Violinkonzerten hat Vivaldi selbst jeweils ein erklärendes Sonett vorangestellt und in der Partitur genau angegeben, welche Textstelle sich auf welche Takte bezieht. In diesem etwa eine Dreiviertelstunde dauernden Zyklus breitet Vivaldi eine enorme Vielfalt an Affekten aus, die oft unvorhersehbar aufeinander folgen.
Mit diesem Abwechslungsreichtum eignen sich die „Jahreszeiten“ auch dafür, von einem Maler mit Bildern „begleitet“ zu werden. Der in Berlin geborene Hans-Jürgen Gaudeck hat es gemacht. Insgesamt 33 Aquarelle entstanden, beigeordnet einem ausführlichen Werkkommentar von Roman Hinke. Dieser präsentiert zunächst einen kleinen historischen Kontext, bis er jeden der zwölf Sätze in Form eines ausführlichen Konzertführers darstellt. Das vorliegende grafisch schön gestaltete 80-seitige Lesebuch führt den Leser zumeist in Doppelseiten, links der Text, recht eines der Aquarelle, durch das Werk.
Der Werkkommentar ist auch für Laien verständlich, der Spaß des Autors an seiner Fabulierkunst ist aber in manierierten Formulierungen zu oft zu erkennen. Da wird die Werkgruppe der Violinkonzerte beschrieben als diejenige, „die besonders hervorsticht aus dem schier überbordenen Bouquet funkelnder Pretiosen“, der Komponist selbst als „der Alchimist Antonio Vivaldi im Labor seiner Kunst“. Wenn der Autor die Sonette erwähnt, heißt es gar: „Noch so eine Verrücktheit des wunderlichen Venezianers?“
Aber nicht nur sprachlich gehen mit Hinke die sprichwörtlichen Pferde durch, auch inhaltlich ist er nicht immer präzise. Denn die Sonette sind höchstwahrscheinlich erst nach der Komposition entstanden und weniger als „Verrücktheit“ zu bezeichnen, sondern dienten ganz profan neben der Präzisierung des musikalischen Programms der Steigerung des Verkaufs. Auch wurde es nach Vivaldis Tod 1741 nicht „gänzlich still um ihn“, wie Hinke schreibt. In Frankreich wurde das „Frühlingskonzert“ bis 1763 öffentlich gespielt, Jean-Jacques Rousseau veröffentlichte 1775 eine Bearbeitung für Traversflöte, Michel Corrette nahm 1782 einige Passagen der „Jahreszeiten“ in seine Violinschule auf.
Gaudecks Bilder sind mehr oder weniger abstrakte Landschaften sowie Stadtansichten aus Venedig. Sie illustrieren die Musik, den Text und sind vielleicht auch durch Vivaldis Sonette inspiriert. Die Landschaften auf den Bildern verändern sich je nach Jahreszeit, behalten aber ihren stets zarten und feingliedrigen Farbstil bei (wie auch in anderen Büchern dieser Reihe mit Aquarellen Gaudecks zu erkennen, z.B. zu Theodor Fontane oder Rainer Maria Rilke), während Vivaldis Musik in ihrer Expressivität und auch in ihrem dynamischen Ambitus ein weit größeres Spektrum eröffnet.
Jörg Jewanski