Robert HP Platz
Anderswo: Wand
für Orchester (2017/18), Partitur
„Das allererste, was ich von der Kunst verlange, ist: dass sie wahr sein soll.“ Das alte Ringen zwischen Wahrheit und Schönheit: es beschäftigt auch den Komponisten Robert HP Platz. Musik soll an die Wirklichkeit andocken – und die ist widersprüchlich, abgründig, rätselhaft, hässlich, aber auch großartig, makellos, kostbar.
Auch in seinem neuen Orchesterwerk Anderswo: Wand bleibt Platz dieser Linie treu. Die Wand, von der hier die Rede ist, ist zunächst nicht als Objekt vorhanden, sondern liegt wie unter einem dicken Nebel verborgen. Sie ist mehr spürbar als sichtbar und kündigt sich als „Wuchtiges, Undurchdringliches, Dichtes“ an. „Bei genauem Hinsehen/Hinhören nimmt man Einzelheiten wahr, Inschriften; aus der Masse schälen sich Individuen heraus, die, je weiter das Stück sich entwickelt, desto mehr sich entfalten können“, schreibt Platz im Vorwort zur Partitur.
Rein musikalisch gesehen könnte man das Stück als moderne Interpretation des barocken Prinzips des „Concertare“ begreifen: Solistische Stimmen heben sich kontrastierend aus einem Gesamtklang heraus oder wechseln mit ihm ab. Am Beginn bietet das Orchester massigen Klang: Tiefe Streicher plus Blechbläser legen ein Fundament aus Liegetönen, hohe Streicher repetieren gleichmäßig einen schneidend-dissonanten Akkord, eine aufsteigende Figur der Holzbläser weht wie ein kräftiger Windhauch durch die Szenerie. Danach setzt ein Prozess der Zerfaserung, der Auflösung ein, der den kompakten Klang in ein Geflecht aus Einzelstimmen überführt. Nach und nach schälen sich solistische Motive heraus: in der Viola, in der Flöte, in der Klarinette, im Horn – eine Dialektik, die sich mehrfach wiederholt.
Das alles nun ist nicht einfach ästhetisches Spiel. Platz übersetzt nicht die Materialstruktur einer Wand in Klänge (wie etwa Enno Poppe, der sich in seinem Stück Wand als Klangforscher betätigt). Bei Platz stehen die solistischen Partien für die Namen von Opfern einer Tyrannei, wie sie auf einer Wand der Erinnerung verzeichnet sein könnten. Wahrheit schließt Schönheit natürlich nicht aus: Platz’ Musik ist geschmeidig, lyrisch, kraftvoll, die Solopartien sind zart und empfindsam, alles ist sehr orchestral gedacht und enthält keine ungewöhnlichen Effekte oder Spieltechniken.
Das Schlagzeug (fünf Fellinstrumente), eine Violine und ein Englischhorn sollen im Raum verteilt werden. Die Partie von Flöte, Englischhorn, Harfe und Violine ist als eigenes Quartett im Anhang 1 unter dem Titel „Langsames Verstummen“, die Flötenstimme hieraus als Anhang 2 unter dem Titel „Faust“ beigefügt. Gemeint ist offenbar Michael Faust, Soloflötist des WDR Sinfonieorchesters, das die Uraufführung besorgte.
Anderswo: Wand, komponiert 2017 und 2018, ist als „imaginäre Opernszene“ für eine Kammeroper gedacht, die derzeit im Entstehen ist. Die Handlung wird um Philipp von Boeselager und den Widerstand gegen die Naziherrschaft kreisen. Das siebzehnminütige Stück erlebte seine Uraufführung am 12. Januar 2019 im Funkhaus des WDR in Köln (Mitschnitt auf YouTube).
Mathias Nofze