Marina Abramović/Alte Oper Frankfurt

Anders hören – Die Abramović-Methode für Musik

Ein Musikprojekt von Marina Abramović und der Alten Oper Frankfurt

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Alte Oper, Frankfurt
erschienen in: das Orchester 01/2020 , Seite 62

Anders hören setzt sich zum Ziel, in der technologischen Welt, die die menschliche Aufmerksamkeitsspanne radikal verkürzt hat, das ausdauernde Hören wieder zu lernen.
Bei dem dreitägigen Projekt gaben die 2 000 Teilnehmer wie schon bei früheren Projekten Abramovićs Uhren und Handys am Eingang ab. Von jeweils einem der 35 Vermittler im wörtlichen Sinn an die Hand genommen, machten sie – akustisch durch Kopfhörer abgeschirmt – sieben verschiedene Übungen, die im hinteren Teil des Buchs aufgeführt sind: Reis zählen, gegenseitiges Ansehen, im Raum stehen, blind durch den Raum gehen, liegen, in Zeitlupe gehen, auf eine der drei Grundfarben schauen.
Die Vermittler gaben Sicherheit in dem umgestalteten Konzertsaal und nahmen intuitiv ihren Schützlingen die Entscheidung ab, in welcher Reihenfolge sie die Übungen ausführen. Den Abschluss bildete ein fünfstündiges Konzert, bei dem zwölf Künstler (unter anderem mit Orgel, Sitar, Akkordeon und einem Streichquartett) internationaler, traditioneller Musikstile an verschiedenen Stellen des Großen Saals jeweils Solowerke spielten. Durch Losverfahren wurde zuvor die Reihenfolge festgelegt, sodass per Zufall die Geigerin Carolin Widmann das Konzert eröffnete und beschloss. Das Programm wurde nicht angekündigt, so wie während des gesamten Projekts scheinbar kein Wort gesprochen wurde.
Ganz unabhängig davon, wie man zu der serbischen Performance-Künstlerin steht, die ihren Namen der Methode gibt: Über die Musik im Konzert einen Weg ins Hier und Jetzt zu suchen, ist eine besonders friedliche, inspirierende, aber auch anspruchsvolle Lösung. Alle Interviewpartner, Musiker, Teilnehmer und Vermittler, die für das Buch befragt wurden, bestätigen, eine „Selbstentdeckung“ (Stephan Pauly) gemacht zu haben. Es geht nicht mehr darum, in ein Konzert zu gehen, um „runterzukommen“, sondern runterzukommen, um mit der Musik zu einer Gemeinschaft zu werden, zu sich zu kommen und zur Reflexion zu gelangen. Das Projekt stellt die herkömmlichen, ausgehöhlten Rituale nur zum Teil in Frage – denn Respekt und Rituale im Konzert sind grundsätzlich wichtig.
Die Künstler erreichten durch die veränderte Publikumssituation eine ganz andere Ausdrucksdimension. Es lohnt sich folglich, mehr für Vermittlung zu tun, denn wir brauchen nicht irgendwelche Besucher, sondern Zuhörer.
Der deutsch- und englischsprachige, mit vielen Farbfotos versehene, großzügig gestaltete Band fordert indirekt dazu auf, sich grundsätzlich mehr Zeit zu nehmen; den Möglichkeiten der gemeinsamen oder individuellen Vorbereitung auf den Musikgenuss sind keine Grenzen gesetzt. Eine Teilnehmerin erwog, vor ihrem nächsten Konzertbesuch ein paar Yoga-Übungen zu machen…
Iris Winkler