Mark Barden

Anatomy

Brian Archinal (Schlagzeug), Deutsches Symphonie-Orchester Berlin, Ltg. Peter Rundel, Ensemble Mosaik, Ltg. Enno Poppe

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Wergo WER 6434 2
erschienen in: das Orchester 11/2021 , Seite 79

Mag Paul Griffiths, Starkommentator aktueller Ton- und Geräuschkunst, im Beiheft auch versichern, „wir“ könnten bei der Musik Mark Bardens dem eigenen Hören zuhören – außer ihm dürfte das kaum jemandem gelingen. Ohrenfällig ist vielmehr das Bemühen des 1980 in Cleveland geborenen und derzeit in Detmold lehrenden Komponisten, Musik als „mit Geräusch verbunden“ erfahrbar zu machen.
Bardens akustische Botschaften bewegen sich dabei oftmals am Rande der Lautlosigkeit, als liege ein Schleier über ihnen. Tatsächlich nennt er das Eingangsstück des Albums Veil (2012): eine Atemlaut-Studie für zwei Piccoloflöten. In ihren Spitzentönen glimmt ein Harmoniegerüst auf, bevor sich der Schleier wieder zuzieht.
Einer Liebesszene ähnelt das zweite Stück Personae von 2009 für die sonoren Verwandten Bassflöte und Bassklarinette. Was beide Instrumente hier zudem verbindet, ist die Gemütsruhe und die Ähnlichkeit ihrer Luftgeräusche. Doch während die Bassklarinette brüsk einsetzt, bedarf die Bassflöte erst der Ermunterung, sich auf ein Turtelspiel einzulassen. Weitaus entferntere Verwandte – so sollte man meinen – sind Piccoloflöte und Fagott, die Barden 2016 in ein Lamentoso verwickelte. Indes kommt das hohe Fagott der Kleinflöte hier klanglich so nahe, dass sie schier verschmelzen – in desolater Monotonie.
Ein Fall für sich ist das vierte Duett des Albums: Cleft (2017) für Violine und Violoncello (die tiefste Saite eine Oktave tiefer gestimmt). Es ist eine krude, zerklüftete Geräuschlandschaft am Rande der Sprachlosigkeit, in zerstückelten, konvulsivischen Gesten erstarrend; zwanzig zermürbende Minuten zwischen „zärtlich ersticktem“ Getuschel und rüder Aggression, allmählich zum Weghören verleitend.
Nicht genug zu rühmen sind der Langmut, der Übe- und Probeneinsatz der beteiligten Instrumentalisten Helen Bledsoe (Flöten), Matteo Cesari (Piccoloflöte), Carl Rosman (Bassklarinette), Lorelei Dowling (Fagott) sowie Ashot Sarkissjan (Violine) und Séverine Ballon (Violoncello).
Bei den drei Études für Klavier (2017) entwirft Joseph Houston fingerflink eine taktfeste Gegenwelt: in Kreuzrhythmen kaskadenartig auf- und abwogend (Velocity Gauge), im „gnadenlosen“ Staccato einer Toccata abschnurrend (Mirror, Masks), als „wohlwollend verfremdende“ Metamusik über das dreiteilige Präludium aus Bachs c-Moll-Partita BWV 826 (On Affect and Nostalgia).
Zuvor verausgabt sich das Ensemble Mosaik unter Enno Poppe in Bardens „verstärktem Nonett“ aMass (2015). Anfangs kaum hörbar, wölben sich unterweltliche Schabgeräusche und wie aus Erdspalten platzende Luftstöße zu einer siebenminütigen Crescendowalze auf, die mit einem Knack abbricht und zerfällt.
Von Donnerblechen gepeitscht, scheint der Schlagzeugvirtuose Brian Archinal im abschließenden Konzertstück Anatomy (2010) durch die Stimmgruppen des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin zu flüchten, wobei er in alle Lücken tappt. Zum Glück hält Peter Rundel alles Ungemach in Schach.
Lutz Lesle