Franco Faccio
Amleto
Prague Philharmonic Choir, Wiener Symphoniker, Ltg. Paolo Carignani
Die Aufführungschronik von Franco Faccios Amleto ist kurz, der Erkenntnisgewinn über die Entwicklung der italienischen Oper durch dieses Werk allerdings riesig. Nach der Uraufführung in Genua 1865 und einer Reprise an der Mailänder Scala 1871 war es bis zu den Vorstellungen in Baltimore/Maryland und an der Opera Southwest von Albuquerque (2014) in Anthony Barreses Rekonstruktion still um die zweite Oper von Verdis Lieblingsdirigenten, des Direktors des Mailänder Konservatoriums und der Mailänder Scala.
Inzwischen hatte 2018 die Oper Chemnitz Olivier Tambosis Inszenierung für die Bregenzer Festspiele 2016, wo der vorliegende Zusammenschnitt mehrerer Vorstellungen im Festspielhaus entstand, mit Erfolg übernommen. Auch an diesem kleineren Haus erwies sich die Tragfähigkeit von Faccios überaus farbiger und abwechslungsreicher Partitur.
An dem Libretto Arrigo Boitos merken heutige Hörer kaum, dass sich der junge Intellektuelle in Konfrontationskurs zum Opern-Mainstream um 1860 befand. Aber dafür besticht, wie Boito die Tragödie Shakespeares für Faccio mit ähnlichem Geschick wie später Otello für Verdi einrichtete. Drama, Kolorit und Anlässe für Musik hatte Boito so gestaltet, dass Faccio eine verhältnismäßig freie Folge formaler Einheiten über den Text legen konnte.
Paolo Carignani zeigte mit den Wiener Symphonikern und dem Prager Philharmonischem Chor wirklich alles, was in dieser Partitur steckt: die Geschmeidigkeit dramatischer Entwicklungen wie in der französischen Oper, den sich satt steigernden melodischen Bogen beim Trauerzug für die tote Ofelia, die Kontrastwirkungen zwischen intimen Momenten wie der Erscheinung von Amletos totem Vater und die vielteilige Festszene am Beginn zwischen Knallwirkungen und Burleske. Tenor Pavel Černoch bewältigt die außergewöhnlich umfangreiche Titelpartie mit nicht sonderlich ausladendem, dafür mit Bewusstsein für Faccios melodische Architekturen agierenden Stimmeinsatz. Das gesamte Ensemble zeichnet sich durch passend timbrierte und nicht zu dramatisch ausladende Stimmen aus. So kommt die im ständigen Wechsel von bewährten Mustern und Aufbruch springende Komposition zur spannenden Geltung.
Gerade in der enorm beeindruckenden Gestaltung der Übergänge zwischen geschlossenen und deklamierten Passagen hört man, wie erst Boito in der überlieferten Fassung von Mefistofele (1875) und Verdi dann in den Bearbeitungen von Simon Boccanegra (1881) und Don Carlo (1884) Errungenschaften aus Faccios Amleto weiter entfalteten. Umso bemerkenswerter ist Faccios Partitur auch, weil diese wesentlich flexibler und dynamischer wirkt als der drei Jahre später uraufgeführte Hamlet von Ambroise Thomas oder Gounods Roméo et Juliette. Verschwiegen sei es nicht: Faccio ist wie in der Walzer-Eruption des Festes durchaus etwas rückfallgefährdet, aber seine zukunftsweisenden und bis Catalani und Montemezzi wirksamen Meriten lohnen die weitere Beschäftigung mit dieser „Tragedia lirica“ unbedingt.
Roland Dippel