Richard Lorber (Hg.)

Alte Musik heute

Geschichte und Perspektiven der Historischen Aufführungspraxis. Ein Handbuch

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Bärenreiter/Metzler
erschienen in: das Orchester 04/2024 , Seite 67

Das von Richard Lorber herausgegebene Handbuch Alte Musik heute ist ein wahrer Volltreffer und ein Glücksfall für alle, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven diesem äußerst komplexen Thema
nähern wollen. Entstanden ist das Kompendium als Kooperation von vier Kölner Institutionen: WDR, Musikhochschule, Zentrum für Alte Musik und Forum Alte Musik. Neben fundierten Analysen und kenntnisreichen Einzelbetrachtungen punktet das Werk mit wertvollen Erfahrungsberichten von 14 ausgewählten Gesprächspartnern, die in Form von Interviews ihre Sicht der Zustand der historischen Aufführungspraxis zur Diskussion stellen. Zweifellos ist die historische Aufführungspraxis heute im allgemeinen musikalischen Bewusstsein angekommen. Sie ist mittlerweile nicht mehr wie ehedem in Gefahr, in Opposition zum musikalischen Mainstream zu geraten, sie selbst befindet sich vielmehr in einem Zustand der gesellschaftlichen Akzeptanz. Drastischer formuliert ist sie also nicht mehr Ausdruck einer alternativen, aufklärerischen musikalischen Protestkultur.
Dennoch gibt es Irrwege und unreflektierte Ärgernisse, die es zu benennen gilt: Immer häufiger erklingen in deutschen Opernorchestern, wenn sie Mozarts Zauberflöte spielen, neben engmensurierten Posaunen auch sogenannte Naturtrompeten. Nur auf den ersten Blick eine auf historische Aufführungspraxis beruhende Klangkonzeption. Das Rezept ist einfach, das Ergebnis desaströs. Denn zusammen mit den aus dem Orchestergraben erklingenden Böhm-Flöten ergibt sich ein zutiefst verstörendes Klangbild. Dass die meisten Orchestertrompeter zudem auf ahistorischen Instrumenten mit Grifflöchern musizieren, kommt hinzu. Im Handbuch wird im Kapitel „Die Naturtrompete“ auf Jean-François Madeuf verwiesen, der kompromisslos auf die ahistorischen Korrekturlöcher verzichtet: „Je mehr Löcher geöffnet werden, desto mehr wird der ursprüngliche Klang des Instruments verzerrt.“
Sehr gelungen und äußerst klug, wie Arnold Jacobshagen dem „Phänomen Countertenor“ auf den Grund geht, es als eine weitere, mittlerweile durchaus liebgewonnene, gleichwohl in der Oper ahistorische Praxis offenlegt: „Die Geburt des postmodernen Countertenorvirtuosen aus dem Geist der historischen Aufführungspraxis beruht somit auf einer Reihe sehr heterogener Faktoren. Die Eigendynamik der internationalen Barockmusikszene lebt von der kollektiven Konstruktion von Geschichtsbildern, in denen der illusionäre Wunsch nach Authentizität, der Mythos des Kastratengesangs sowie Relikte eines altenglischen Traditionsbewusstseins einander recht diffus durchdringen.“ So ist es!
Martin Hoffmann