Felix Pestemer

Alles bleibt anders

Das Konzerthaus Berlin und seine Geschichte(n)

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Avant-Verlag, Berlin 2021
erschienen in: das Orchester 10/2021 , Seite 69

Festschriften sehen für gewöhnlich anders aus als dieser Comicband zum 200-jährigen Bestehen des von Karl Friedrich Schinkel entworfenen Musentempels am Gendarmenmarkt, der seit seiner Eröffnung als Schauspielhaus 1821 und später (1984) als wieder aus Ruinen auferstandenes Konzerthaus im Mittelpunkt bewegter Geschichte steht. Die Publikation zeige den Schinkelbau und seinen Platz in vielen historischen Facetten, teilt Intendant Sebastian Nordmann im Vorwort mit. Der „gezeichnete Roman“ vereine „gründliche Recherche mit der künstlerischen Freiheit fiktiver Szenen“. Bis zu einem gewissen Grad würden Bild- und Textquellen absichern, wie sich etwas abgespielt hat – oder vielleicht haben könnte.
In detailgenau gezeichneten Comicepisoden und annähernd realistisch konterfeiten Persönlichkeiten aus Kunst und Politik sowie Platzansichten im Wandel der Zeiten blättert sich ein faszinierendes Geschichtspanorama auf. Vor jedem für ereigniswichtig erachteten Jahr steht ein historisches Entree, ehe die bildkünstlerische Momentaufnahme folgt. Den authentischen Hintergrund des Gezeichneten erfährt man allerdings erst nach lästigem Hin-und-her-Blättern.
Die Rückschau beginnt anno 1817 mit dem Brand des Königlichen Nationaltheaters, den Schriftsteller und Undine-Komponist E. T. A. Hoffmann von seiner benachbarten Wohnung aus verfolgt. Auf den Grundmauern lässt Friedrich Wilhelm III. durch Schinkel ein Schauspielhaus nach neuester klassizistischer Mode erbauen, das über einen Theater- und Konzertsaal verfügen soll und im Mai 1821 eröffnet wird. Einen Monat später erlebt dort Carl Maria von Webers Freischütz seine umjubelte Uraufführung, die dem Zeichner nur die Szene des Freikugelgießens in der Wolfsschlucht wert ist.
Dafür breitet er die Ankunft der russischen Zarin Alexandra Fjodorowna nebst ihrem preußenköniglichen Vater auf dem Gendarmenmarkt genüsslich aus. Diese Szenerie bedeutungsvariiert er durch die Jahrzehnte: von der Aufbahrung der Märzgefallenen 1848 über Hakenkreuzfahnenschmuck und die Eröffnung des Konzerthauses mit Erich Honecker bis zum aktuellen touristenattraktiven Aufenthaltsort. Die zweite Comicepisode handelt vom gefürchteten Theaterkritiker Theodor Fontane („Das Scheusal von Platz 23“), die dritte von Gustaf Gründgens und seiner Garderobenbegegnung mit Hermann Göring, der ihm u. a. die Intendanz des Schauspielhauses antrug.
Dagegen ist der Comic vom Wiederaufbau des Schauspielhauses als Konzerthaus (1979-1984) eine bildungsbeflissene Hommage an die zahlreichen Handwerker und Künstler, die an diesem Bauprojekt beteiligt waren („Schinkel 2.0“). Zwischen diesen Comicsäulen gibt es „Momentaufnahmen“ vom Teufelsgeiger Paganini, vom legendären Baustellenkonzert 1981, von Leonard Bernsteins Auftritt kurz nach dem Mauerfall mit Beethovens Neunter und umgedichteter „Ode an die Freiheit“. Beklemmend dagegen die finale Zeichnung einer Querflötistin mit FFP2-Maske.
Peter Buske