Tabachnik, Michel
Allem voran die Musik
Das ist persönlich. Dieses Buch wird nicht objektiv. Mit diesen Worten steckt der Schweizer Dirigent Michel Tabachnik die Marschroute seines Buchs Allem voran die Musik bereits auf der ersten Seite ab. Anders als persönlich und etwas egozentrisch kann es auch kaum ablaufen, wenn ein Dirigent seine Lebens- und Wirkungsgeschichte in Form eines fiktiven Konzertprogramms präsentiert. Selbstverständlich handelt es sich dabei nicht um ein gewöhnliches Konzertprogramm, denn es manifestiert sich nicht in Tönen, sondern in den Worten des Autors. Von Xenakis über Strawinsky zu Boulez, dann zurück zu Bartók und schließlich zu den Vier letzten Liedern von Richard Strauss spannt Tabachnik den Bogen.
Mit seinen 304 Seiten ist das 2012 erschienene Buch dabei mehr als abendfüllend. Tabachnik lässt den Leser nicht nur hinter den Vorhang des klassischen Musikbetriebs schauen, er öffnet ihm außerdem seinen eigenen Gedankenkosmos. Diese Innenansicht offenbart die Frage, wie sich ein Künstler heutzutage noch sinnvoll positionieren kann zwischen eigener Freiheit, Geschmack des Publikums, Intellektualität, Abstraktheit, Handwerk und metaphysischem Anspruch an die Musik. Ungeschönt und ehrlich lässt Tabachnik den Leser sein Ringen um die Neue Musik im ästhetischen, künstlerischen wie im persönlichen Bereich mitverfolgen. Die Schwierigkeiten Neue Musik aufzuführen thematisiert er, ohne sich in eine verstiegene Fachsprache zu verirren. Geht es allerdings um Xenakis als Freund und großen Bruder, Boulez als Vaterfigur, Karajan als Lehrmeister, wird Tabachnik emotional, bei Xenakis fast esoterisch.
Mit Anekdoten, Erinnerungen, Gefühlen und Gedanken, die sich rasant abwechseln, eröffnet er ungewohnte Einblicke sowohl ins Private wie auch ins Werk der Komponisten. Man ist quasi in Echtzeit dabei, wenn Tabachnik Terretektorh von Xenakis dirigiert und die Erinnerungen an seinen Freund ihn fast übermannen. Diese assoziativen Sprünge zwischen dem Jetzt und der Vergangenheit fordern dem Leser Kombinationsvermögen ab. Dazu kommt Tabachniks enorme Belesenheit: Er konstruiert um seine fünf Auswahlwerke herum einen kulturästhetischen, philosophischen Rahmen mit Überlegungen zur Musikgeschichte. Dabei wird kaum ein Philosoph der abendländischen Kulturgeschichte ausgespart: Von Sokrates über Kant, Schopenhauer, Heidegger und Wittgenstein bis zu Sartre kommen hier alle zu Wort.
Seine eigenen Überlegungen liefert Tabachnik meist in plakativen Ein-Satz-Statements ab, wie z.B.: Die Musik ist mehr als eine Kunst. Aber auch eher schwülstig klingendes romantisches Gedankengut, dass die Musik das Unaussprechliche aussprechen könne, wird bemüht. Nichtsdestotrotz ist dieses Buch authentisch. Es erzählt von einem Leben, das fulminante Höhepunkte, aber auch tiefe Abgründe aufweist. Und sich vielleicht gerade deshalb die großen Fragen nach Sinn und Bedeutung stellen muss. Die altbekannte Mystifizierung des Dirigenten bekommt hier eine berührend persönliche Note.
Desirée Mayer


