Gilles Cantagrel

Air und Variationen über Bach

Mensch und Werk

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Kamprad
erschienen in: das Orchester 01/2021 , Seite 60

„Gilles Cantagrel (geb. 1937) ist nicht nur Musikwissenschaftler, Schriftsteller und Pädagoge, sondern war auch Organist und Chorleiter. Er hat an der Sorbonne sowie am Conservatoire de Paris gelehrt und mehr als zehn Werke über Bach verfasst. [Er] ist Ehrenmitglied der Neuen Bachgesellschaft.“
Diese dem rückseitigen Klappentext entnommene Kurzbiografie des Autors mag von Interesse sein, da sein Name in Deutschland nur wenig bekannt ist. Eine sehr wichtige Information findet sich darüber hinaus eher versteckt in der Titelei des Buches: Es handelt sich hier um die erste deutsche Ausgabe der bereits im Jahr 1998 erschienenen französischen Originalausgabe. Mithin liegt der Vergleich mit den beiden grundlegenden deutschsprachigen Bach-Biografien von Martin Geck und Christoph Wolff, die ebenfalls pünktlich zum Bach-Jubiläumsjahr 2000 erschienen sind, auf der Hand. Ob der Text mit dem Erscheinen in deutscher Sprache eine Ergänzung oder inhaltliche Überarbeitung erfahren hat, kann den einleitenden Worten von Autor und Lektor nicht entnommen werden; die Lektüre des Bandes spricht aber dagegen.
Cantagrel schreibt die Lebensgeschichte Bachs und die der Zeit, in der er gelebt hat, in zwölf Großkapiteln, eingerahmt von zwei besonders reflexiv gehaltenen Texten – der Autor nennt sie in Anlehnung an BWV 988 „Aria“ und „Aria da capo“ – die dem Ganzen Abschluss und Rundung verleihen sollen. Es geht um das Leben in Deutschland nach Ende des Dreißigjährigen Krieges, um die Geschichte der protestantischen Kirchenmusik, um Musik und Rhetorik, Kantate und Oper, das höfische Musikleben, Bachs Alltag und sein Familienleben, die Konflikte mit der Obrigkeit und Johann Adolf Scheibes Kritik an Bach, das hermetische Spätwerk und um Tod und Sterben in Bachs Musik.
Sicher stellt das vorliegende Buch so etwas wie das Opus summum des Autors dar. Cantagrel hat ein sehr persönliches Buch geschrieben; er liebt es, mit seinem Protagonisten allein zu sein, ihn ganz für sich zu haben, ihn zu interpretieren, zu befragen, das Unbekannte durch mancherlei Überlegung und auch Spekulation zu erhellen. Dabei greift der Autor fast ausschließlich auf Quellentexte des 18. Jahrhunderts zurück und lässt die aktuelle, ja auch die „klassische“ Bach-Forschung fast gänzlich außen vor. Beinahe folgerichtig wird am Ende des Buches auf die Bach-Biografien von Forkel und Spitta verwiesen; der Name Alfred Dürr taucht im Personenregister nur ein einziges Mal auf.
Der potenzielle Leser und Käufer des Bandes muss wissen, dass er hier keine aktuelle Studie erwerben kann, sondern ein Buch, das inhaltlich sehr deutlich vom Geist vergangener Zeiten durchdrungen ist. Auch die Werkbesprechungen sind nicht in einen Diskurs eingebettet und bleiben so häufig sehr eindimensional. Nicht nur verglichen mit den genannten Biografien von Geck und Wolff wirkt Cantagrels Schrift wie aus der Zeit gefallen.
Ulrich Bartels