Zender, Hans
¿Adónde? Wohin? 4 Canciones nach Juan de la Cruz
Scharfsinnige Dirigierpraxis, komponierte Interpretation und essayistische Selbstvergewisserung gingen bei Hans Zender stets Hand und Hand. Wobei das dialektische Denken in gegenstrebigen Fügungen (scheinbar unvereinbaren Gegensätzen, die sich zur Einheit fügen) seine geistige Welt ebenso kennzeichnet wie die Abneigung gegen Systemzwänge. Hinzu kommt ein nichtlineares Zeit-Erleben, das er auf Japanreisen für sich entdeckte. Fernöstlich inspiriert ist auch sein Entwurf einer mikrotonalen Harmonik ein weites Feld, auf dem feinste Tonqualitäten und spektrale Schwebungen gedeihen, von denen sich die wohltemperierte Schulweisheit nichts träumen lässt.
Werkauslösend sind oftmals Dichtkunst und Sprachmusik. Von verwundeter Liebe sagen und klagen seine (hier erstmals zyklisch eingespielten) Vertonungen der ersten vierzehn von insgesamt vierzig Gesängen, die der spanische Mystiker Juan de la Cruz um 1580 dichtete: eine dem alttestamentlichen Hohelied abgehorchte, metaphorisch beredte Liebeslyrik, die sich sowohl buchstäblich als auch allegorisch lesen lässt.
Diese fragilen Gesänge zwischen der Seele und ihrem Bräutigam, die der heiliggesprochene Karmeliter und Kirchenlehrer als hartnäckiger Rebell bestraft im Ordensgefängnis von Toledo schuf, inspirierten Zender nach und nach zur Komposition von vier Strophengruppen. Drei davon sind vokalinstrumental besetzt, eine rein chorisch a cappella.
Auf der Suche nach ihrem Geliebten durcheilt die Braut in ¿Adónde? Wohin? (2008) mit einem Tamtam-Schrei ein zerklüftetes Arkadien, bevor sie die Hirten um Hilfe anruft: eine von strophenverbindenden Zwischenspielen unterbrochene Szenenfolge, die Angelika Luz (Sopran) und Ernst Kovavic (Violine) begleitet vom auftraggebenden Klangforum Wien zu einem fragilen Solo-Duett verdichten. Bestellgemäß enthält die Musik Anspielungen auf Schönbergs erste Kammersinfonie und Alban Bergs Kammerkonzert.
In der Kopfstrophe der fünfteiligen, mit Sopran, Chor und Ensemble besetzten Cancion Oh bosques (O Wälder, 2010) folgt der Sopranistin ein echoartiger Vokalschatten: ein stammelndes Ich-weiß-nicht-was der suchenden Seele. Por que? (Warum?, 2011) deutet die Strophen 9 und 10 der poetischen Vorlage. Dem inneren Aufruhr folgt das Mysterium der gelöschten Herzensbrände: eine Meisterleistung des SWR Vokalensembles Stuttgart unter Marcus Creed, das sich hier in zwei gegeneinander verschobene, mikrotonale Chorhälften teilt. Im Schlusslied des Zyklus, Oh cristalina (2014) für drei Sänger- und Instrumentengruppen, entschwebt die Braut als Taubenseele in die schweigend tönende Einsamkeit.
Die einstündige Werkeinheit gleicht einem Prisma, worin sich die luzide Tonwelt Zenders schillernd bricht.
Lutz Lesle