Björn Johannsen

Abwärtsspirale zur Häppchenkultur

Soziale und digitale Medien: ein Wundermittel für Kultureinrichtungen?

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: das Orchester 05/2020 , Seite 13

Ein Blick in die aktuelle Praxis des Kulturmanagements zeigt es: Der Einsatz sozialer und digitaler
Medien in Kultureinrichtungen wird empfohlen, ja, es scheint kein Weg daran vorbeizuführen. Es ist an der Zeit, diesen Einsatz nicht nur als Wundermittel zu betrachten, sondern ihn kritisch zu beleuchten.

> Folgt man der Argumentation vieler Kulturmanager, sollen soziale und digitale Medien gegen Besuchsrückgänge und die vermeintliche Krise der klassischen Musik wirken, sie sollen zeigen, dass Kultureinrichtungen auch in der heutigen Zeit noch von gesellschaftlicher Relevanz sind und in einem scharfen Wettbewerb um Aufmerksamkeit eben diese auf die eigene Einrichtung lenken. Um das Publikum von morgen für die eigene Kultureinrichtung zu interessieren, wird insbesondere der Versuch unternommen, junge Menschen über die sozialen und digitalen Medien zu erreichen.1 Unter anderem aus diesem Grund rüsten sich Kultureinrichtungen aus: Websites sind versehen mit Icons, die direkt zu Facebook, Twitter, Instagram und YouTube führen; Mitarbeiter werden gezielt für den Bereich Social Media in den Marketingabteilungen eingestellt; Aktionen werden erdacht und durchgeführt, die jene Medien ins Zentrum rücken – oftmals in fragwürdiger Ausführung, wie der Versuch Daniel Barenboims zeigt, Werke der klassischen Musik innerhalb von fünf Minuten auf dem Videoportal YouTube zu erklären. Die Kritik folgt auf dem Fuße, habe sich der Dirigent doch „in vorauseilendem Gehorsam […] für die Häppchenkultur entschieden, als ob man ein Werk wie das erste Klavierkonzert von Brahms […] in fünf Minuten auch nur ansatzweise erklären könnte. Und so bleibt das Filmchen leider belanglos und auf allen Ebenen unbefriedigend“,2 so der Konzertagent Berthold Seliger.
Werden die Entwicklungen seitens der Kultureinrichtungen allerdings nicht bedient, verlieren sie – so nicht selten der Vorwurf – „endgültig den Einfluss […], aktuelle Kunst und Kultur und damit die Entwicklung der Gesellschaft im digitalen Zeitalter mitzugestalten“.3 Um diesen Einfluss und die eigene Legitimation nicht zu gefährden und um zu zeigen, dass sie nicht rückwärts-, sondern vorwärtsgewandt agieren, spielen Kultureinrichtungen dieses Spiel mit.

Ablenkung
Diese ersten Gedanken führen zu der entscheidenden Frage: Ist der Einsatz sozialer und digitaler Medien für Kultureinrichtungen tatsächlich so sinnvoll, wie es deren Verantwortliche glauben gemacht werden? Zur Beantwortung dieser Hauptfrage ist es hilfreich, zwei Blickwinkel einzunehmen:
> Für Kultureinrichtungen – aber nicht nur für diese – zeigt sich der fragwürdige Charakter jener Applikationen von Internetunternehmen wie Facebook, Twitter oder Instagram, da sie für Abhängigkeit, Zerstreuung und Aushöhlung der Demokratie sorgen. Unter anderem der ehemalige Vizepräsident für Nutzer-Wachstum bei Facebook sagt: „Die von uns entwickelten, schnell reagierenden dopamingetriebenen Feedbackschleifen zerstören, wie die Gesellschaft funktioniert. […] Kein gesellschaftlicher Diskurs, keine Zusammenarbeit; Desinformation, Unwahrheit.“4
Wird dieser erste Blickwinkel mit dem Auftrag und der Verantwortung von Kultureinrichtungen, ihrer Stellung in der Gesellschaft und ihrem künstlerisch-kulturellen Inhalt in Verbindung gebracht, so fällt die Antwort auf die gestellte Hauptfrage ebenso eindeutig wie einfach aus: Nein, jene Applikationen können nicht hilfreich sein, wenn ihre Nutzung außerhalb von Kultureinrichtungen für Zerstreuung sorgt, jedoch die Hoffnung besteht, dass im eingangs erwähnten scharfen Aufmerksamkeitswettbewerb die zuvor Abgelenkten sich für den Besuch einer Kultureinrichtung entscheiden und ihre Aufmerksamkeit alsdann deren Inhalten widmen.
Kann ihnen überhaupt die notwendige Aufmerksamkeit gegeben werden, wenn Aufmerksamkeitsspannen abnehmen? Aufgabe von Kultureinrichtungen ist es folglich auch, dem Besucher Hilfestellung bei der Konzentration auf ihre Inhalte zu geben. Doch dies geschieht nicht, indem Kultureinrichtungen es unterstützen und fördern, dass Aufmerksamkeitsspannen kürzer werden und Zerstreuung durch den Einsatz sozialer Medien zunimmt. Und somit ist das stellvertretende Beispiel Barenboims auch vor diesem Hintergrund ein kaum gelungenes, da es letztlich auf die Folgen der schwindenden Aufmerksamkeit in Form jener Häppchendarbietung reagiert und so deren Abnahme weiter unterstützt – eine Abwärtsspirale, die vielerorts zu beobachten ist.
> Werden wiederum die hinter den Applikationen stehenden Geschäftsmodelle der Internetunternehmen betrachtet, so kann die Hauptfrage erneut nur wie folgt beantwortet werden: Nein, jene Applikationen können nicht hilfreich sein, solange die Geschäftsmodelle fragwürdigen Charakters sind und den von jenen Unternehmen gesammelten Daten nicht ausreichend Schutz geboten wird. Die Unternehmen, so der Medienwissenschaftler Guido Zurstiege, benötigen eben einen Rohstoff – und dieser sind unsere Daten. Und mit diesen verfolgen sie ihr primäres Ziel der Gewinn-
maximierung.5
Kultureinrichtungen traten bereits an anderer Stelle selbstbewusst auf, stellten sich gegen die Geschäftsgebaren von Unternehmen und verzichteten auf die Finanzierung durch deren Sponsoring.6 Wieso nicht auch in dem Fall der Internetunternehmen ähnlich selbstbewusst handeln?

Beteiligung
Hand in Hand mit dem Einsatz sozialer und digitaler Medien geht die Partizipation des Rezipienten. Ihm soll die Möglichkeit geboten werden, mit Kultureinrichtungen in Dialog zu treten, sich zu Kunst, Kultur und den Einrichtungen zu äußern und – in der umfangreichsten Form der Partizipation – gar Programme und Inhalte mitzubestimmen. Bei allen Chancen, die eine Kommunikation in zwei Richtungen bieten kann, ist dennoch offenkundig, dass diese auch mit Risiken verbunden ist: Viele Personen sprechen nämlich weniger über künstlerische Aspekte, als dass sie vielmehr ihren – oft ethisch bedingten – Unmut kundtun, wie der Zeit-Feuilletonist Hanno Rauterberg in seinem Buch Wie frei ist Kunst? offenlegt. Dies führte bereits zu Schließungen von Museumsausstellungen, ehe diese eröffnet wurden.7 Dank der vielfältigen Bewertungsmöglichkeiten – seien es Kommentarfunktionen oder hochgereckte Daumen – und der kommunikativen Geschwindigkeit ist es dabei nicht verwunderlich, „dass vor allem Affekte den Ton angeben“.8 Der so wichtige Freiheitsbegriff der Kunst, verankert in Artikel 5, Absatz 3 des Grundgesetzes, scheint mit diesen Entwicklungen zuweilen auf dem Prüfstand zu stehen.
Und mehr noch: Nicht nur die Möglichkeit zum Dialog soll dem Besucher gegeben werden, es soll ihm auch die Möglichkeit eingeräumt werden, seine eigene Kunst auf den Webpräsenzen der Kultureinrichtungen auszustellen. Bereits 2007 formulierte der Kurator Peter Weibel den aus seiner Sicht für Museen entscheidenden Punkt: „[Es] muss der Betrachter die Möglichkeit haben, seine eigenen Kunstwerke dort abzustellen.“9
Die digitalen und technischen Voraussetzungen, die zu vermeintlichen Werken führen wie beispielsweise das Programm Garage Band, sind für viele künstlerische Sparten gegeben. Jedoch, so schreibt der Kulturwissenschaftler Felix Stalder, verlangt deren Anwendung „zwar eine gewisse Fertigkeit, ein gewisses Interesse und Engagement, meist aber kein außergewöhnliches Talent“.10 Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass Kultureinrichtungen, die ihre digitalen Türen für scheinbare Werke öffnen, die ohne beziehungsweise mit wenig Talent entstanden sind, letzten Endes an ihrem eigenen Ast sägen.
Auch hier gilt, dass Einrichtungen die ihnen immanente Verantwortung übernehmen: Verantwortung für die Qualität von Kunst, für den Begriff der Kunst sowie Verantwortung gegenüber dem Besucher und dem eigenen Dasein der Kultureinrichtung.
Empfehlung
Martin Heidegger schreibt: „Der Verzicht nimmt nicht. Der Verzicht gibt.“11 Diese Aussage sollte – nicht nur Kultureinrichtungen – zur Richtschnur werden in einer Gesellschaft, in der nahezu alles zu jeder Zeit verfügbar ist. Jedoch verlernt der Mensch durch diese – eben auch durch die digitalen und sozialen Medien geförderte – Allverfügbarkeit, sich auf die Suche nach dem Unverfügbaren zu machen, auf es zu warten und zu hoffen. Das Unverfügbare ist es, das dafür Sorge trägt, dass beispielsweise eine Lieblingsmusik an einem Tag etwas in einem Menschen auslöst, an einem anderen Tag nicht. Ein solcher Mensch ist resonanzfähig, er kann mit anderem – eben auch der Kunst – in Beziehung treten, beschreibt der Soziologe Hartmut Rosa. Jedoch dort, „wo ‚alles‘ verfügbar ist, hat uns die Welt nichts mehr zu sagen, dort, wo sie auf neue Weise unverfügbar geworden ist, können wir sie nicht mehr hören, weil sie nicht mehr erreichbar ist.“12 Die Resonanzfähigkeit wird somit verlernt, je mehr der Mensch sich dem technisch Möglichen in all seinen Facetten hingibt – oder sogar: übergibt – und die Welt in eine Welt des jederzeit Allverfügbaren verwandelt.
Aus den aufgezeigten Überlegungen ergibt sich, dass eine Kultureinrichtung nur gut daran tun kann, sich diesem Verzicht anzuschließen und nicht jedem Trend Folge zu leisten. Dies wäre – anders als manch einer behaupten würde – kein Rückschritt, sondern vielmehr ein Fortschritt in eine Welt, die uns noch etwas sagen kann. <

1 Dass ein Kulturmanagement, das diesen Weg verfolgt, außer Acht lässt, dass ein der Aufmerksamkeitsökonomie folgendes und an Events gewöhntes Publikum immer weniger in der Lage sein wird, sich in ästhetisch-wahrnehmender Weise Kunst und Kultur zu nähern, habe ich bereits beschrieben. Vgl. Björn Johannsen: Strategie und Kultur – Neue Perspektiven für den öffentlichen Kultursektor, Bielefeld 2019.
2 Berthold Seliger: Klassikkampf, Berlin 2018, S. 154. Larissa Kikol zeigt ein Beispiel einer ideenarmen Aktion aus dem Städel Museum Frankfurt auf: Zum Gedenken an den Künstler Marcel Duchamp sollen sich Besucher vor der Toilette fotografieren lassen und das Foto auf Instagram hochladen. Vgl. Larissa Kikol: „Hauptsache, gelikt“, in: Zeit online, 13. September 2017.
3 Simon A. Frank: Kulturmanagement und Social Media, Bielefeld 2016, S. 255.
4 Chamath Palihapitiya, zit. nach Jaron Lanier: Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst, Hamburg 2018, S. 16.
5 Guido Zurstiege: Taktiken der Entnetzung, Berlin 2019, S. 39.
6 Britische und amerikanische Kunstmuseen verzichteten auf Millionenbeträge eines Pharmaunternehmens, das in Verdacht steht, durch den Verkauf von Schmerzmitteln die Sucht nach diesen Medikamenten gefördert und somit hohe Gewinne erzielt zu haben. Vgl. Birgit Rieger: „Was tun, wenn der Geldgeber belastet ist?“, in: Tagesspiegel online, 27. März 2019.
7 Hanno Rauterberg: Wie frei ist Kunst?, Berlin 2018, S. 69.
8 Zurstiege, a.a.O., S. 156.
9 Peter Weibel: „Das Museum im Zeitalter von Web 2.0“, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): APuZ – Aus Politik und Zeitgeschichte, Bonn 2007, Nr. 3-6,
S. 6. Weibel nutzt in der Tat das Hilfsverb muss.
10 Felix Stalder: Kultur der Digitalität, Berlin 2017, S. 124. Hartmut Rosa ergänzt, dass „Smartphones über Apps verfügen, […] sodass jeder Nutzer zum Komponisten zu werden vermag, weil die Voreinstellungen die harmonischen und rhythmischen Möglichkeiten und Versatzstücke so beschränken und kombinieren, dass hör- und erwartbare Kompositionen entstehen“: Hartmut Rosa: Resonanz, Berlin 2017, S. 497.
11 Martin Heidegger, zit. nach Peter Trawny: Heidegger Fragmente, Frankfurt am Main 2018, S. 229.
12 Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit, Berlin 2018, S. 131.