Andrew Greenwald
A Thing is a Hole in a Thing it is Not
für Streichquartett, Stimmen/ Partitur
Der amerikanische Komponist Andrew Greenwald (*1980) macht es seinen potenziellen Interpreten nicht gerade einfach: Der Blick in die Partitur seines 2012 entstandenen Streichquartetts offenbart ein komplexes Notationssystem, das sich nicht auf Anhieb aufschlüsseln lässt, sondern stattdessen zunächst ein genauestes Studium der Vorgaben erfordert. Genau diese Anforderung führt ins Zentrum von Greenwalds Ideen: Was da verschlüsselt ist, wird erst deutlich, wenn man sich darauf einlässt, die grafisch eigenwillige handschriftliche Notation zu verstehen.
Hilfestellung hierbei bietet das lediglich in englischer Sprache vorliegende Vorwort, in dem die Aufteilung jedes einzelnen Instrumentalparts in zwei Systeme (das obere für die unterschiedlichen Aktionen des Bogenarms, das untere für sämtliche Aktivitäten der linken Hand) erläutert ist: Über weite Strecken der Komposition hinweg werden die Musiker dazu angehalten, drei miteinander verknüpfte technische Aspekte – mit der linken Hand gehaltene Doppelgriffe plus diesen entgegengesetzte ornamentale Griffbewegungen, mit dem rechten Arm alternierende Bogentechniken inklusive komplexer Bewegungs- und Strichverläufe – gegeneinander auszubalancieren, um dadurch eine Art „polyphonen Dialog“ zwischen den klanglichen Aspekten der Bogen- und Fingertätigkeit zu erzeugen.
Jenseits aller hierfür entwickelten Symbole verzichtet Greenwald auch auf eine gewöhnliche Dauernnotation; stattdessen fixiert er, gekennzeichnet durch Angaben zwischen 4 und 9 Sekunden, aufeinanderfolgende Abschnitte mit bestimmten musikalischen Kennzeichen, deren Nacheinander sich wiederum zu einzelnen Formteilen fügt. Die Gesamtform des gut zwölfminütigen Werks wird strukturiert durch die 15 möglichen Instrumentenkombination, die sich – vom Soloinstrument über unterschiedlich besetzte Duos und Trio bis zum vollständigen Quartett reichend – aus der Besetzung mit vier Streichern ergeben.
Da sich hinter jeder individuellen Notation immer auch eine bestimmte Art des musikalischen Denkens verbirgt, sollten sich aufgeschlossene und mit zeitgenössischer Musik vertraute Interpreten nicht scheuen, das ihnen Unbekannte kennenzulernen, auch wenn es gelegentlich viel Mühe kostet.
Dennoch bleibt die Frage, warum Greenwald den beschriebenen Aufwand betreibt: Die komplexen Bewegungsverläufe wirken nur in geringem Maße nach außen, das heißt die visuelle Seite der Aufführung wird nicht – wie in vergleichbaren Werken anderer Komponisten – auf besondere Weise als visuelles Element ausgestellt, sondern ist ein vergleichbar unauffälliges Mittel zum Zweck der Produktion denaturierter Klänge. Dass es mittlerweile bereits drei professionelle Aufnahmen der Komposition gibt, deutet zumindest auf eine Antwort hin: Es geht ganz offensichtlich darum, als Ensemble jene enorme Virtuosität zu demonstrieren, die letztlich nötig ist, um den Notentext in Klang zu verwandeln.
Stefan Drees