Watkins, Huw

A Cradle Song

for SATB choir, harp and strings, Chorpartitur/Stimmen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, London 2016
erschienen in: das Orchester 04/2017 , Seite 63

„Get into the mood for Christmas, with my Cradle Song, now available from schottmusic“, twitterte Huw Watkins kurz vor Weihnachten auf der Internetseite der Londoner Royal Music Academy. Dort lehrt der 1976 geborene Waliser Komposition. Mit der 140-Zeichen-Werbung in eigener Sache trifft Watkins die Vorzüge der kleinen Chorkomposition ziemlich genau. Mit einfachen Mitteln spürt sie dem Zauber nach, den das Jesuskind in der Krippe ausübt.
Hauptakteur ist eine schlichte, tonale Melodie im Duktus eines Kinderlieds. Sie erscheint als Unisono im Sopran, als chorisches Unisono oder als Sopranmelodie mit ausgehaltenen Akkorden der übrigen Stimmen. Harfe und Streichquartett legen samtige, vorhaltsgefärbte Akkorde darunter. Und ganz der Tradition folgend fängt ein synkopischer Rhythmus das Wiegen der Krippe ein.
Für Amateurchöre auf der Suche nach Neuem ist der stimmungsvolle Cradle Song ein sehr dankbares Stück. Avantgardisten mögen die Stirn runzeln, für manchen mag es sogar auf dem Weg zum Edelkitsch sein. Doch Watkins, der Klavier bei Peter Lawson und Komposition bei Robin Holloway und Alexander Goehr studierte, dürfte das nicht stören. Er zählt zu den jüngeren Komponisten, die mit beiden Beinen auf dem Boden der klassischen Tradition stehen und für die die Welt noch oder wieder tonal klingt. Warum neue Gattungen oder Genres erfinden, wenn die alten doch weiterhin gute Dienste leisten? Watkins’ Werkkatalog umfasst zum Beispiel ein Klavier-, ein Violin- und ein Cel­lokonzert, ein Nocturno, ein Klavierquartett, eine kleine Sinfonie, Lieder, zwei Opern und anderes mehr, alles Abonnements- und BBC-Proms-taugliche Musik. Watkins’ Vielseitigkeit kenne „keine Grenzen“, urteilte jüngst ein Kritiker im Londoner Guardian. Doch für Hochmut der musikalischen Fortschrittspartei besteht kein Anlass. Längst nämlich darf Musik wieder erzählen, gut klingen und fasslich sein.
Der Text des Cradle Song stammt aus dem Gedichtzyklus Songs of Innocence, die der englische Dichter William Blake 1789 veröffentlichte. In einfach metrisierten Versen erzählen sie von der Kindheit als Lebensphase, in der noch eine unmittelbare Verbindung zur Welt besteht. Freude, Glück, aber auch Schrecken – all das ist noch nicht durch Wissen getrübt. In die Atmosphäre der bukolischen Beschaulichkeit, in der Glocken läuten, grüne Felder locken, Grashüpfer und Vögel lachen und Schäfer und Kaminkehrer ihr Tagewerk verrichten, mischen sich außerdem mystisch-religiöse und naturphilosophische Betrachtungen. Das dichterische Werk von William Blake ist bei Komponisten auf fruchtbaren Boden gefallen. Von George Antheil über Ralph Vaughan Williams bis zu Benjamin Britten reicht das Spektrum der Vertonungen, aber auch in der Rock-Pop-Szene taucht Blake häufig als Inspirationsquelle auf,
bei Tangerine Dream etwa oder bei Patti Smith. Legendär sind die absichtsvoll anti-künstlerischen, leicht windschiefen „Vertonungen“ des Beatpoeten Allen Ginsberg. Dagegen ist Watkins’ Opus geradezu kuschelig. Also: „Get in the mood.“
Mathias Nofze