Vivaldi, Antonio / Astor Piazolla

8 Jahreszeiten / Le Quattro Stagioni / Las Cuatro Estaciones Porteñas

Mainzer Virtuosi, Ltg. Anne Shih, Felix Koch

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Hochschule für Musik Mainz
erschienen in: das Orchester 10/2015 , Seite 75

Aufnahmen von Antonio Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ sind nicht eben selten, und selbst die Idee, die Konzertfolge mit Astor Piazzollas Die vier Jahreszeiten von Buenos Aires zu verschränken, hat vor Jahren schon Gidon Kremer gehabt. Dennoch ist die Aufnahme mit den Mainzer Virtuosi hörenswert. Allein schon deswegen, weil das 2007 an der Mainzer Hochschule für Musik gegründete Streicherensemble die überzeugendere Abfolge wählt: Während bei Kremer auf Vivaldis „Frühling“ Piazzollas „Sommer“ folgt, reiht sich hier an Vivaldis „Frühling“ der „Herbst“ der Südhalbkugel, dann folgen Sommer/Winter, Herbst/Frühjahr und Winter/Sommer. Das ergibt nicht nur geografisch einen Sinn, sondern auch musikalisch, denn Piazzollas „Sommer“ endet mit einem Zitat aus Vivaldis „Winter“.
Die CD der jungen Leute, die ohne Dirigenten und mit wechselnden Besetzungen am Konzertmeisterpult arbeiten, überzeugt durch jugendliche Frische und ästhetisches Gespür. Bei der Omnipräsenz des beliebten Vivaldi-Zyklus in Konzertprogrammen, Schulunterricht,  Fernsehwerbung und Klingeltönen wird oft übersehen, was Vivaldi wagte: Sein  „Jahreszeiten“-Zyklus stammt aus einer größeren Sammlung mit dem Titel Il Cimenti dell’ Armonia e dell‘ Invenzione („Der Wettstreit zwischen Harmonie und Einfällen“). Das heißt: Einerseits gibt es die Gesetze der Harmonie, der Proportion, des Regelmaßes, und dann gibt es den Einfall, die poetische Idee, den Ausdruckswillen, der den Wohlklang durchbricht und die Regeln über den Haufen wirft.
Es sind so skurille Phänomene wie das Pfeifen des Windes im Ofenrohr oder das penetrante Kläffen des Hirtenhundes an der Seite des schlummernden Herrn, durch die der Komponist die Hörerwartung verunsichert oder durchbricht. Auch wenn im konkreten Fall das Bellen des Hundes etwas zu zaghaft daherkommt, lädt die von den beiden Hochschulprofessoren Anne Shih und Felix Koch betreute Aufnahme dazu ein, Vivaldis ästhetisches Experiment wieder als solches wahrzunehmen. Dazu gehört auch, dass die Solistinnen (hintereinander Anetta Mukurdumova, Melody Ye Yuan, Agnes Langer und Yena Lee) ihren Part an passenden Stellen mit einer fast improvisatorischen, spontan wirkenden Grundhaltung angehen.
Astor Piazzolla hat Las Cuatro Estaciónes Porteñas ursprünglich für sein eigenes Bandoneon-Quintett (mit Geige, Klavier, E-Gitarre und Kontrabass) geschrieben, doch das Arrangement des russischen Komponisten Leonid Desyatnikov für Streichorchester mit Solovioline bewahrt den Geist des Frappierenden, Unerwarteten und Individuellen, der das Original auszeichnete und Piazzolla seinerzeit bei Puristen das Image „eines Verrückten mit seltsamen Ideen und sinnlosen Modernismen“ einbrachte. Die Mainzer Virtuosi gehen den argentinischen Zyklus nicht weniger zupackend, neugierig und präzise an als das italienische Vor- und Gegenbild. Auch hier wechseln zwischen den einzelnen Stücken die Solisten: Auf Igor Tsinman folgen Agnes Langer, Doreen Dasol Yun und Irina Borissova – und verleihen jeder der vier musikalischen Großstadtszenen ein dezent individuelles Profil.
Andreas Hauff