Tobias Heyl

75 Jahre G. Henle Verlag

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Hanser, München
erschienen in: das Orchester 10/2024 , Seite 66

Die Erfolgsgeschichte des G. Henle Verlags zu lesen, ist eindrucksvoll. Seit der Gründung als „Verlag zur Herausgabe musikalischer Urtexte“ 1948 ist das Programm sich treu geblieben, zugleich hat es die technischen Neuerungen im Zuge der Digitalisierung erfolgreich umgesetzt. Das Buch zur Verlagsgeschichte erscheint wie die musikalischen Urtextausgaben selbst: im Taubenblau der Corporate Identity, das Emblem auf dem Umschlag eingraviert. Seidenmattes Weiß des Papiers und großer Druck sorgen für ausgezeichnete Lesequalität. Der Autor, von Hause aus Germanist und Historiker, bietet eine umfassende Palette der Verlagsgeschichte, die von der Biografie Günter Henles über die Stiftung bis zu den digitalen Formaten reicht.
Das Buch besticht durch Genauigkeit, genau das, worum es im Henle Verlag geht: um Urtext. Das war zwar kein völliges Novum, stieß aber auf ein Bewusstsein, das sich in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit ausbreitete. Waren frühere Ausgaben meist von Zusätzen überwuchert, so konzent­rierte sich der Henle Verlag allein auf die Intention der Komponisten. Um dieser Anforderung gerecht werden zu können, bedurfte es aufwendiger Quellenforschung. Sowohl der historischen Entwicklung des Begriffs „Urtext“ wie auch der intensiven Quellenarbeit widmet der Autor kurze historische Kontexte, die für das Verstehen der musikwissenschaftlichen Qualität der Ausgaben essenziell sind.
Dass sich der Verlag auf diese Weise etablieren konnte, liegt nicht zuletzt wohl auch an der Umtriebigkeit des Gründers, der, als Quereinsteiger in der Welt der Musikverlage, aus der Industrie kam. Henle, dessen Leben früh vom Musizieren bestimmt war, beruflich aber die Stationen des weit gereisten Diplomaten und Firmenchefs durchmaß, konnte als Verlagsgründer auf erhebliche Mittel und Kontakte zurückgreifen. Die Klugheit bei der Berücksichtigung aller wichtigen Aspekte einer hochwertigen Partitur wie Druck, Bindung oder auch Marketing verdankt sich auch dem finanziellen Hintergrund, auf dem Henle und seine Mitarbeiter:innen agierten.
Die Programmatik des Verlags war zunächst eingeschränkt auf die Klavierwerke der alten Meister, von Bach bis Brahms. Die waren günstig zu verlegen und alles konnte in die Herausgabe investiert werden. Das ist konservativ. Aber es war noch viel mehr: Gerade im Nachkriegsdeutschland sollte die Besinnung auf die große Geschichte deutscher Musik vor den Nazis ins Bewusstsein geholt werden. Das Verdienst des Henle Verlags ist die Aktivierung eines kulturellen Gedächtnisses, das mit der Suche nach dem Urtext zu einem Ursprung zurückgeht, der freilich immer fiktiv bleiben muss. Das vorliegende Buch vermittelt im besten Sinne, was es heißt, am Urtext zu arbeiten, ihn zu recherchieren und zu präsentieren.
Steffen Schmidt