Johann Sebastian Bach

6 Suites a Violoncello Solo senza Basso

BWV 1007-1012, hg. von Andrew Talle, Urtext der Neuen Bach-Ausgabe, revidierte Edition ,

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2018
erschienen in: das Orchester 10/2018 , Seite 68

Noch eine Ausgabe? Seit dem um 1824 in Paris erschienenen Erstdruck der Cellosuiten Bachs wurde diesen Werken einiges an editorischer Aufmerksamkeit zuteil: Mehr als einhundert Versionen gelangten seither an die Öffentlichkeit. Und natürlich gab das Bemühen um einen von Fehlern und Willkürlichkeiten bereinigten Urtext den Aktivitäten in den vergangenen Jahrzehnten zusätzlichen Schub. Erschwerend – oder soll man sagen: beflügelnd? – kommt hinzu, dass kein Autograf erhalten ist. Anders als im Fall des Schwesterwerks, der Sonaten und Partiten für Violine solo, existiert keine Bach’sche Reinschrift, und infolgedessen sind alle, die sich mit der Thematik beschäftigen, herausgefordert, die vorhandenen Quellen nicht nur genau zu studieren, sondern sie zueinander in Beziehung zu setzen.
Dies ist im vorliegenden Fall dem US-amerikanischen Musikwissenschaftler Andrew Talle im Auftrag des Bärenreiter-Verlags hervorragend gelungen. Er ist nicht der erste „Urtexter“ im Zusammenhang mit Bachs Cellosuiten: Nach den Bärenreiter-Editoren Hans Eppstein (1988), Bettina Schwemer und Doug­las Woodfull Harris (2000) sowie Ulrich Leisinger, der im Jahr 2000 in der Universal Edition eine Alternativversion herausgebracht hat, zeichnet Talle nun für eine revidierte, in vielen Details neue Impulse setzende Ausgabe verantwortlich.
Vor allem hat Talle die Relationen der vier erhaltenen Hauptquellen zueinander nochmals grundlegend untersucht: Anders als Eppstein, der die Abschriften von Anna Magdalena Bach (= A) und Johann Peter Kellner (B) einerseits, diejenigen von Schober (C) und die Hamburger Ab­schrift (D) andererseits zu getrennten Texten zusammengefasst hat, und im Gegensatz zu Leisinger, der den Quellen C und D größere Bedeutung beigemessen hat, kommt Talle zu folgendem Resultat: Alle vier Quellen gehen auf eine gemeinsame Quelle zurück. Allein Quelle A indes basiert auf einem unrevidierten Autograf Bachs. Die Quellen C und D sowie der Pariser Erstdruck gründen auf einer Abschrift, die Revisionen Bachs enthält und möglicherweise von Bachs Schüler Johann Christoph Altnickol erstellt wurde. Interessanterweise enthält aber auch Quelle B (der in der Quellendiskussion häufig größere Nähe zum Original attestiert wurde) viele Elemente, die offensichtlich bereits auf Revisionen zurückgehen.
Höchst lesenswert sind Talles Ausführungen zur Frage des Instruments: Vieles deutet darauf hin, dass Bach einen Cellisten-„Typus“ vor Augen hatte, der ähnlich den Gambisten den Bogen im Untergriff führte. Dass dies gravierenden Einfluss auf die Ausführung von Akkorden, ja auf die Gesamtrhetorik der Werke gehabt haben dürfte, liegt auf der Hand.
Talle empfiehlt Lesern und Ausführenden das Studium der in der NBA erschienenen synoptischen Faksimile-Edition, bietet aber in seiner Ausgabe dankenswerterweise einen Fließtext, der nicht entschlüsselt, sondern nur aufgeklappt werden muss und zum Spielen einlädt. Eine wunderbare Edition!
Gerhard Anders