Eugène Ysaÿe

6 sonatas op. 27/ÉtudePoème op. 9

Noé Inui (Violine), Mario Häring (Klavier)

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Ars Produktion
erschienen in: das Orchester 02/2020 , Seite 71

Man darf sie sicherlich als Meilensteine der Geigenliteratur bezeichnen, die sechs innerhalb von nur 24 Stunden entstandenen Solosonaten op. 27 von Eugène Ysaÿe, der auf einer Talent-Ebene mit Sarasate und Paganini gesehen werden kann – immense technische Ansprüche allerorten, bedeutsame, auf Bach zurückgehende polyfone Techniken (die Antje Weithaas auf CD bereits gegenüberstellte).
Sehr spannend komponiert und gestaltet ist die Joseph Szigeti gewidmete erste Sonate in g-Moll, mit der Noé Inui die vorliegende CD eröffnet. Mit schönsten Flageoletts, mit schier endlosem Atem! Feinfühlig und intensiv spielt Inui alles, mit vibrierenden Doppelgriffen, mehrstimmigen Pizzicati, heller, feiner Tongebung in den hohen Lagen. Und überall diese wunderbaren Schlüsse. Selten hört man Ysaÿe so lyrisch und zugleich tiefgründig und ernsthaft, so detailreich, wenngleich dies gelegentlich ein wenig auf Kosten der großen gestalterischen Linie geht.
So wird das breit angelegte rhapsodische Erzählen dem marsch­artige Hauptthema der dritten Sonate, eine Hommage an Enescu, beinahe geopfert. Inui spielt weniger brillant als vielmehr durchsichtig. Der Geiger scheint Ysaÿe sehr persönlich zu nehmen und zu empfinden, ebenso „Musiker, Poet und Mensch“ (so forderte es Ysaÿe ) zu sein. Ob die Tatsachen, dass beide Belgier sind, beide am 16. Juli geboren wurden, der eine 1858, der andere 1985 (man beachte die „Zahlendreher“), dass der Geiger hier einen historischen Sartorius-Bogen spielt, den die belgische Königin Elisabeth dem Komponisten 1929 zum Geschenk machte, besondere Zeichen einer Verbundenheit sind, sei dahingestellt.
Viele Auftritte mit renommierten Ensembles hat der in Düsseldorf lebende griechisch-japanisch-stämmige Noé Inui, zu dessen Fürsprechern Helga Thoene, Rosa Fain und Ulf Hoelscher zählen, absolviert, diverse Preise gewonnen, unter anderem den Förderpreis des Landes NRW für junge Künstler. Seine Aufnahmen zeigen bislang „nur“ Kammermusik, diese aber auf höchstem Niveau.
Eine wirkliche Besonderheit dieser Aufnahme ist die weltweit erstmals eingespielte Etude-Poème (im Sommer 1990 geschrieben), hier mit Mario Häring am Klavier. Häring, 1989 in Hannover geboren, aufgewachsen in Berlin, ausgebildet unter anderem von Lars Vogt und András Schiff, hat ebenfalls japanische Wurzeln. Und er hat auf der Geige angefangen, was auch eine Ursache für seine Sensibilität, seine gleiche Atmung im Duo mit Inui sein mag. Ein wenig zigeunerisch starten die beiden hier, liefern sich und dem Hörer eine spektakuläre, wilde Jagd, um ganz plötzlich zufrieden und sanft zu verhallen.
Carola Keßler