Rodolphe Kreutzer

42 Etüden für Violine solo

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Henle
erschienen in: das Orchester 12/2020 , Seite 65

Vor über 200 Jahren erschien die Erstausgabe der Etüden für Violine solo von Rodolphe Kreutzer
(1766-1831), zweifelsohne ein Standardwerk für jeden guten Geiger. Grund genug für den Henle Verlag, sich auf der Basis umfangreicher Forschungen des Musikwissenschaftlers und Henle-Lektors Norbert Gertsch und keinem Geringeren als dem Weltklassegeiger Ingolf Turban mit der Herausgabe einer neuen Urtextausgabe zu befassen.
Rodolphe Kreutzer, seines Zeichensselbst ein hervorragender Geiger und Professor für Violine am späteren Pariser Konservatorium sowie Leiter der Pariser Oper, entwickelte zusammen mit Pierre Baillot und Pierre Rode die Violinmethode des Pariser Konservatoriums. Da lag es für Kreutzer natürlich nahe, aus seiner violinpädagogischen Erfahrung heraus ein Etüdenheft zu verfassen.
Norbert Gertsch zeichnet im Vorwort zur Urtextausgabe wunderbar die zum Teil abenteuerliche Hintergrundgeschichte der Etüden nach. So klärt er zum Beispiel das Rätsel um die Frage auf, ob es nun ursprünglich 40 oder 42 Etüden waren. Dank Gertschs akribischer Detail- und Quellenarbeit erhält der interessierte Leser im Vorwort sowie in den Bemerkungen am Ende einen umfangreichen Einblick in die verschiedenen von Kreutzer selbst überarbeiteten Fassungen.
Als Hauptquelle stützt Gertsch sich auf Kreutzers revidierte und korrigierte Fassung von ca. 1820. Im Fall der Etüde Nr. 23 waren die Unterschiede in den Quellen so eklatant, dass Gertsch sich entschloss, beide Versionen, die von 1806 sowie die aus der Neuausgabe um 1820, abzudrucken. Ebenso findet sich in dieser Urtextausgabe die vollständige Etüde Nr. 22, deren letzte 15 Takte aus Platzgründen in früheren Drucken einfach gekürzt wurden. In den Einzelbemerkungen am Ende des Hefts belegt Gertsch sorgfältig und exakt die von ihm vorgenommenen Ergänzungen und Verbesserungen.
Spannend und Ansporn zugleich ist es für jeden Geiger sicherlich, mit vorliegender Urtextausgabe Fingersätze und Strichbezeichnungen von zwei virtuosen Geigern zu bekommen: von Rodolphe Kreutzer und von Ingolf Turban. Da einige Strich- oder Fingersatzbezeichnungen von Kreutzer „jedoch nicht mehr den heutigen Spielgepflogenheiten entsprechen“, wie Gertsch anmerkt, wurden zusätzliche Bezeichnungen und praktische Hinweise von Turban abgedruckt. Die in farblich abgesetztem Graudruck gehaltenen Fingersätze und dynamischen Zeichen von Turban zeugen von einer sehr feinsinnigen, musikalisch klanglichen Gestaltung der einzelnen Phrasen und sind ein weiteres Highlight dieser Ausgabe.
Auch in den Strichbezeichnungen legt Turban viel Wert auf das Herausarbeiten der Betonung und Artikulation, ohne sich dabei vom Urtext zu entfernen. Als hilfreich erweisen sich schließlich auch Turbans Bemerkungen, welcher bogen- oder fingertechnische Aspekt in den einzelnen Etüden trainiert wird. So bleibt es dem Geigenspieler überlassen, ob er einzelne technische Aspekte systematisch herausgreift und gezielt vertieft oder sich das ganze Etüdenwerk chronologisch vornimmt. Es bleibt zu resümieren, dass es sich hier um eine sehr empfehlenswerte Ausgabe handelt.
Gabriele Hirte