Mahler, Gustav

4 Movements

Totenfeier/Adagio (from Symphony No. 10)/Blumine/ What the wild flowers tell me

Rubrik: CDs
Verlag/Label: EMI Virgin Classics 50999 2165762 7
erschienen in: das Orchester 11/2009 , Seite 71

Paavo Järvi scheint einen ganz eigenen Humor zu haben, vielleicht auch eine Vorliebe für skurrile Inszenierungen. Jedenfalls muss man erst einmal auf die Idee kommen, auf dem Booklet einer selbst dirigierten CD als Mona Lisa zu posieren. Im Gegenzug ist dann im Heft dieser Mahler-Einspielung auch nicht eine Zeile zur Biografie zu finden: Järvi, der einst in der angesagtesten Rockband Estlands das Schlagzeug drosch, präsentiert sich als großer Unbekannter, der er freilich längst nicht mehr ist.
Der 1962 geborene Sohn des großen Neeme Järvi hat mittlerweile selbst eine ansehnliche Karriere hinter und gewiss auch noch vor sich: seit 2001 Chef des Cincinatti Symphony Orchestra, 2005 zusätzlich Leiter der Kammerphilharmonie Bremen, 2006 weiter Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters Frankfurt am Main und ab 2010/11 außerdem Leiter des Orchestre de Paris. Paavo Järvis Aufnahmen sind kaum noch zu zählen, zwei wurden mit Grammys ausgezeichnet, eine Beethoven-CD erhielt den Preis der Deutschen Schallplattenkritik. Standardrepertoire ist ebenso darunter wie Uraufführungen und viel Nordisches.
Wenngleich Järvi Mahler oft im Konzert dirigiert, scheint die vorliegende CD aber seine erste Mahler-Einspielung zu sein – und eine ganz besondere dazu. Zusammengestellt hat er nämlich Einzelsätze, von denen Mahler einen absichtlich liegen ließ (Blumine aus der ersten Sinfonie), einen in anderer Form weiterführte (Totenfeier im Umfeld der zweiten Sinfonie) und einen am Ende des Lebens unvollendet liegen lassen musste (Adagio aus der zehnten Sinfonie). Hinzu kommt ein Satz aus der dritten Sinfonie in der dezent veränderten Bearbeitung von Benjamin Britten.
Natürlich sind auch diese selten zu hörenden Sätze schon mehr oder weniger oft aufgenommen worden, doch die Zusammenstellung zeigt eindrücklich, dass sich auch bei Mahlers Sinfonien hinter dem großen, scheinbar unantastbaren Kunstwerk ein Schaffensprozess mit Abspaltungen und Nebengleisen befindet.
Das alles wäre freilich wenig ohne die über weite Strecken herausragende Leistung des hr-Sinfonieorchesters und seines Dirigenten. Prunkstück der Aufnahme ist die Totenfeier, die sich nur unwesentlich vom ersten Satz der zweiten Sinfonie unterscheidet und von Järvi in atemberaubender Wucht und Präzision geleitet wird. Der fiktive Held des Werks erhält hier ein Begräbnis der allerersten Klasse. Niederschmetternde Schwere, wenn es sein muss, rauschhafte Farben, unbezwingbare Verschärfungen des Tempos und ein fabelhaftes Orchester bilden die Glücksmischung.
Danach ist man umso enttäuschter, wie unsensibel und beinahe sorglos Järvi das hinreißende Adagio aus der Zehnten nimmt – ein veritables Stück neuer Musik, in dem Cluster von Entsetzen künden und das Material am Ende regelrecht auseinanderfällt. Auch in Blumine ist der satte Mischklang der Frankfurter fast etwas dick aufgetragen, dafür gelingt die Erzählung der wilden Blumen aus der Dritten wieder zart und durchsichtig. Trotz Einschränkungen: eine wohltuende Mahler-Aufnahme, die keine orchestrale Kraftprobe ist, sondern sich unangestrengt der Musik widmet.
Johannes Killyen