Andreas Eichhorn
365 Tage mit Kurt Weill
Ein Almanach
Es gibt – außer seiner Musik – wenig in Deutschland, was an Kurt Weill erinnert. Seit 2019 existiert im Meisterhaus Moholy-Nagy in Dessau-Roßlau immerhin die Ausstellung „Kurt Weill – ein Weltbürger und Dessauer“. Zusammengestellt hat sie Andreas Eichhorn, Professor für Musikwissenschaft in Köln und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Kurt-Weill-Gesellschaft.
Eichhorns nun vorliegender Almanach 365 Tage mit Kurt Weill ist ein literarisches Pendant zu dieser Ausstellung. Er enthält eine oder mehrere Eintragungen für jeden Tag des Jahres: Biografische Fakten, Quellen von Weill oder über Weill oder über ihm nahestehende Personen – vor allem seine Frau Lotte Lenya –, sowie über künstlerische und historische Ereignisse mit Bezug zu ihm.
Die Verbindungslinien reichen weit – von der Geburt des einflussreichen Musikkritikers Oskar Bie 1864 bis zum Dessauer Kurt-Weill-Fest in digitaler Form 2021 – , aber im Mittelpunkt steht Weills Lebensspanne von 1900 bis 1950. Es ergibt sich eine Art Biografie-Puzzle, das private, fachliche und öffentliche Facetten zeigt und dabei zwischen den verschiedenen Lebensstationen hin und her springt (Dessau, Berlin, Paris, New York bzw. New City, zeitweise Hollywood). Im Anhang findet man ein nach Jahren geordnetes Verzeichnis der Texte und einen Quellennachweis. Ein Namensregister fehlt aber leider.
Von der Anlage her zielt das Buch eher auf das breite Publikum, doch es enthält auch Texte, die Kenner aufhorchen lassen. Und gerade die kaleidoskopartige Struktur macht spürbar, „welche Verwerfungen, Spannungen und Risse das Leben eines in Deutschland geborenen, aufgewachsenen und musikalisch sozialisierten Komponisten jüdischer Herkunft prägten, das eine Zeitspanne umfasst, die von zwei Weltkriegen, dem Holocaust und dem Abwurf der ersten Atombombe 1945 gezeichnet ist“, so der Herausgeber, der treffend fortfährt: „Und welche physische und psychische Energie aufzuwenden war, diese Serie von biografischen Brüchen und Neuanfängen zu synthetisieren – auch in künstlerischer Hinsicht.“
Eichhorn charakterisiert Weill als „Workaholic“; die eigene Produktivität dürfte ihm aber auch weitergeholfen haben. Unter den Illustrationen findet sich die US-amerikanische Einbürgerungsurkunde von 1943. Weill schien damals mit seiner deutschen Vergangenheit abgeschlossen zu haben. Aber am 31. Januar 1949 schickte er an den befreundeten Autor Alan J. Lerner die Idee zu einem „modernen romantischen Stück“, in dem ein in Deutschland stationierter US-Soldat am Rhein ausgerechnet die Loreley trifft und sich in sie verliebt. Aus dem Projekt wurde nichts; es wäre wohl auch Weills Musical One Touch of Venus zu ähnlich geworden. Doch die Verbindung zu Heinrich Heine und der deutsch-jüdischen Geschichte war offensichtlich noch da. Dass es Weill nicht mehr vergönnt war, seine deutsche und seine amerikanische Hälfte wieder zu verbinden, wirkt in der Rezeption bis heute nach.
Andreas Hauff