Ullmann, Viktor

26 Kritiken über musikalische Veranstaltungen in Theresienstadt

Mit einem Geleitwort von Thomas Mandl, hg. und kommentiert von Ingo Schultz

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: von Bockel, Neumünster 2011
erschienen in: das Orchester 03/2012 , Seite 70

Theresienstadt war das politische Potemkinsche Dorf des nationalsozialistischen Schreckensregimes. Im jüdischen Getto wurden bis zu 140000 Menschen gefangen gehalten und zwar auf einem Raum, der für 7000 Menschen gedacht war. Dass sich inmitten dieser qual- und drangvollen Enge ein kulturelles Leben entfalten konnte, zeugt davon, dass Kultur zu den unaufgebbaren Grundbedürfnissen des Menschen zählt.
Der Komponist und Schönberg-Schüler Victor Ullmann war eine treibende Kraft für das musikalische Leben des Gettos. Er komponierte dort über 20 Werke in wechselnden Besetzungen, spielte Klavier und war, wie vorliegende Veröffentlichung zeigt, ein kritischer Rezensent hohen Rangs. In dieser Eigenschaft entstammte er der großen Tradition des Prager Tagblatts – sachlich immer außerordentlich fundiert, stilistisch zwischen Ironie und Essayistik changierend. Über die Komponisten vermittelte er in seinen Kritiken Beobachtungen und Erkenntnisse, die immer noch hohe Beachtung verdienen; und er setzte seine Konzerterlebnisse in Beziehung zur eigenen Situation im Getto. Dieser dunkle Hintergrund lässt die Kompositionen in einem wesentlich strengeren Licht erscheinen und offenbart Qualitäten, die unter „normaleren“ Umständen eher im Schatten bleiben. Die Leistungen der Interpreten beurteilt der Rezensent mit großer Sachkenntnis und ohne Schonung.
Zu den Besprochenen gehören in Theresienstadt oder Auschwitz ermordete Künstler wie Gideon Klein (sehr zustimmend besprochen), Hans Krása, Pavel Haas, viele heute in Vergessenheit geratene Interpreten und der Überlebende Karel Ançerl. Die aufgeführten Werke reichen von Vivaldi bis in die Moderne des frühen 20. Jahrhunderts; dort sind es ausnahmslos tschechische Komponisten, die zu hören waren. Mozarts Zauberflöte wurde mit minimalem instrumentalen Aufwand realisiert; die Aufführung wurde vom Rezensenten ziemlich harsch verrissen. Johann Strauss’ Fledermaus fand mehr Zustimmung. Mendelssohns Elias, Verdis Requiem, daneben Klaviermusik und Kammermusik in erstaunlicher Fülle – man könnte meinen, Theresienstadt sei ein sozusagen gebremstes Paradies gewesen. Dieser von den Nazis durchaus intendierte Eindruck täuscht indessen gewaltig; die meisten Interpreten wurden 1944 ermordet. Ergänzt werden die Kritiken durch Beobachtungen und Wertungen von den überlebenden Theresienstädtern Thomas Mandl und Paul Kling, die bei denselben Konzerten anwesend waren.
Der verdienstvolle Band enthält ein lesenswertes Geleitwort von Thomas Mandl und eine kundige, bewegende Einführung durch Ingo Schultz. In zahlreichen Fußnoten werden Nachweise oder deren Fehlen und andere Meinungen über die Konzerte dokumentiert. Eine Liste der Komponisten und ihrer Werke, ein Register und ein Anhang mit den Kurzbiografien der beteiligten Künstler machen das Buch zu einem kleinen Kompendium, dessen Wert nicht zuletzt darin besteht, dass es Menschen dem Vergessen entreißt, die nach dem Willen der Machthaber für immer hätten verschwunden bleiben sollen.
Diederich Lüken