Fazıl Say

Kaz Dağları Sonatı

Mount Ida Sonata, Zweite Sonate für Violine und Klavier

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott Music
erschienen in: das Orchester 03/2023 , Seite 64

2010 schrieb ich anlässlich der Rezension seines Violinkonzerts: „Fazıl Say ist gewissermaßen ein Paradiesvogel des Konzert- und Musikbetriebes: ein Multi-Talent von hohen Gnaden, pianistischer Superstar extrovertiert-spontaner Natur, durchaus mit Neigung zum Beschreiten ausgefallener Wege bis hin zur Exzentrizität […].“
Mag das ab und an etwas extrovertiert-schrille Feuer der frühen Sturm-und-Drang-Jahre heute etwas gesetzter, nachdenklicher, gelegentlich stiller, „seriöser“ daherkommen, ein Bekenntnismensch und -musiker comme il faut ist Fazıl Say – Gott sei Dank! – geblieben. Die Entstehungsgeschichte der gerade eben erschienenen 2. Violinsonate Kaz Dağları Sonatı (Mount Ida Sonata) spricht für sich. „Wegen unrechtmäßiger Abholzungen im Naturschutzgebiet des Ida-Gebirges […] in der Türkei gab Fazıl Say am 18. August 2019 spontan ein Open-Air-Konzert. Die künstlerische Idee des Konzertes bestand darin, der Musik der Bäume und aller Waldbewohner zu lauschen. Die im Nachgang komponierte Sonate Nr. 2 für Violine und Klavier op. 82 Mount Ida thematisiert diese Idee des Lebens und des Bewahrens von Leben in der Musik. Sie beschreibt die Existenz von Bäumen, Vögeln, Schildkröten, Eichhörnchen und vielen weiteren Lebewesen in Unversehrtheit. […] Der erste Satz hat einen dramatischen Charakter und trägt den Titel ‚Zerstörung der Natur‘. […]. Die Themen dieser dramatischen Erzählung werden in verschiedenen Tempi verarbeitet. Der zweite Satz ‚Der verletzte Vogel‘ ist eine eindringliche Klage, begleitet von improvisierten Vogelrufen der Violine. Der letzte Satz ‚Ritus der Hoffnung‘ zeigt Glauben und Hoffnung, dass sich immer mehr Menschen der Zerstörung der Natur entgegenstellen.“ So weit das Vorwort der Notenausgabe.
Voilà, ein typischer Say: multi-stilistisch, ohne jede Berührungsängste (auch tonaler Art), direkt und lautmalerisch, immer wieder folkloristisch angehaucht. Das ist alles „für, nicht gegen die Instrumente“ geschrieben, Geige und Klavier dürfen auch mal einfach schön klingen und ihre virtuosen Möglichkeiten demonstrieren. Anders als im Vorwort dargestellt, sind „neue“ Spieltechniken, im Violinpart etwa mikrotonale Elemente, in beiden Instrumenten weitestgehend ausgespart. Ein paar Glissandi in der Geige, ein paar manuell abgedämpfte Klänge im Klavier, dazu Glissandi direkt auf den Klaviersaiten, gelegentliche Cluster-Akkorde, deren Noten aber penibel ausnotiert sind, das ist alles. Diese Musik will beschwören, nicht provozieren. Irgendwie gelingt es Say trotz seiner heutzutage meist als hoffnungslos antiquiert verpönten, emotional-expressiven Direktheit, den Zuhörer „unter der Haut“ zu erreichen.

Herwig Zack