Arno Lücker
250 Komponistinnen
Frauen schreiben Musikgeschichte
Die Welt der Klassischen Musik entfernt sich vom Althergebrachten. Neben Beethoven oder Verdi tauchen immer mehr Komponistinnen in den Programmen der Konzert- und Opernhäuser auf. Was lange nur ein Anliegen der feministischen Musikwissenschaft war, kommt nun im Mainstream an. Emsig werden die Archive durchforstet, um Partituren von Frauen dem Staub der Vergangenheit zu entreißen.
Welche Reichtümer sich hier entdecken lassen, offenbart der Musikwissenschaftler Arno Lücker, der 250 Komponistinnen in einem 600-Seiten-Wälzer vorstellt: von der byzantinischen Äbtissin Kassia, die im neunten Jahrhundert lebte, bis zu Beispielen aus der Gegenwart wie der in Berlin lebenden Koreanerin Unsuk Chin oder der Österreicherin Olga Neuwirth.
Bis ins 18. Jahrhundert hinein waren es oft Nonnen und Ordensfrauen, die komponierten; die bekannteste unter ihnen ist Hildegard von Bingen. Später nutzten vor allem die Töchter des Adels das Privileg, sich der Tonkunst zu widmen. Interpretinnen komponierten für eigene Aufführungen. Im Zuge der Emanzipationsbewegungen des 20. Jahrhunderts erkämpften sich immer mehr Frauen das Recht auf kreative Selbstverwirklichung.
Arno Lücker konzentriert sich auf die „ernste“ abendländische Musik, schweift aber auch zu Jazz, Folk oder Filmmusik. Jeder Beitrag besteht aus einem biografischen Teil von ein bis zwei Seiten. Anschließend stellt der Autor kurz ein wichtiges Werk vor, das er stilistisch und musikhistorisch einordnet. Aufgewertet wird das Ganze durch markante Schwarzweiß-Illustrationen von Chiara Jacobs. Über einen QR-Code im Buch können alle erwähnten Werke nachgehört werden.
Arno Lücker begegnet seinem Forschungsgegenstand mit einer großen Begeisterung, die auch die Leser ansteckt. Wenn er aber Komponistinnen generell ein durchschnittlich größeres Talent als den männlichen Kollegen attestiert, schießt er wohl über das Ziel hinaus und holt sich durch die Hintertür eine positive Diskriminierung ins Haus. Wozu überhaupt ein solcher Vergleich?
Komponierende Frauen waren bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eine Seltenheit, aber eben nicht jene absoluten Einzelfälle, wie man lange glaubte. Ob die angeführten 250 Namen dieses Feld nun mehr oder weniger abdecken oder nur die Spitze eines Eisberges darstellen, bleibt offen. Jedenfalls hat sich die Ausrede, es gäbe nicht genügend Repertoire, um die Geschichte weiblichen Komponierens im heutigen Musikleben sichtbar zu machen, spätestens mit dem Erscheinen dieses Buchs erledigt.
Antje Rößler


