Henry Schradieck
25 Studien
für Violine op. 1, hg. von Benjamin Bergmann
Henry Schradieck war einer der großen Violinlehrer der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und setzt die geigenpädagogische Linie von Hubert Leonard über Ferdinand David in das 20. Jahrhundert fort. Der gebürtige Hamburger vereinte die Tradition der franco-belgischen Schule mit der der deutschen Violinisten in Nachfolge Louis Spohrs. Von den wenigen violinpädagogischen Materialien, die er hinterlassen hat, werden nach wie vor die Tonleiterstudien und die Schule der Violintechnik verwendet sowie die vorliegenden 25 Studien. Hinter diesem unscheinbaren Titel verbergen sich jedoch eigentlich wahrhafte Capricen, die zwar violintechnische Themen bearbeiten, aber durchaus musikalisch anspruchsvolle wenn auch für Konzertaufführungen begrenzt geeignete Charakterstücke sind. Ihr violintechnischer Anspruch ist ausgesprochen hoch.
Systematisch werden die Dur- und Molltonarten des Quintenzirkels bearbeitet. Der Herausgeber hat in der Neuausgabe den Versuch unternommen, violintechnische Inhalte der jeweiligen Studie zu beschreiben und mit kurzen technischen Anleitungen und dem Verweis auf Vorübungen aus dem Unterrichtswerk Systematische Violintechnik Die Bausteine des Violinspiels von Helmut Zehetmair und Benjamin Bergmann dem jeweiligen Stück voranzustellen. Gleichzeitig hat er eigene Fingersatzvorschläge eingefügt, die von denen Schradiecks abweichen. Die Fingersätze des Herausgebers tragen der modernen Violintechnik mit anderen klanglichen Anforderungen und dem heutigem Stilempfinden Rechnung und berücksichtigen dabei veränderte moderne Lagenwechseltechniken. Gleichzeitig gibt der Fingersatzvergleich auch einen Einblick in die Veränderung der Lagenwechsel- und Spieltechnik seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts.
Violindidaktisch bearbeiten die Studien alle Themen des virtuosen Violinspiels von den Facetten des Doppelgriffspiels über Geläufigkeit und Saitenwechsel bis hin zu bogentechnischen Spezialproblemen wie Ricochet, Staccato im Auf- und Abstrich und anderem. Die Frage, ob der formale Ansatz, einmal den Quintenzirkel zu bearbeiten, dabei einen spieltechnischen Gewinn generiert, hat man sich zur damaligen Zeit sicher nicht gestellt.
Die Texte der Ausgabe sind in deutscher und englischer Sprache abgedruckt. Das Notenbild der Ausgabe ist übersichtlich und gut lesbar und unterscheidet sich dabei wohltuend von den Bleiwüsten älterer Studienmaterialien dieser Zeit. Auch wenn aus wendetechnischen Gründen gelegentlich eine Seite nicht bedruckt wird, beispielsweise um so zwei kürzere Studien ohne zu blättern spielbar zu machen, sind doch die meisten Stücke auf Grund ihrer Länge und geschuldet dem leicht erfassbaren Notenbild nur mit Umblätterer, auswendig oder halt studienhalber spielbar.
Die vorliegende Neuausgabe bietet somit interessantes Studienmaterial in Ergänzung und als Alternative zu den gerade für das Violinstudium in unüberschaubarer Menge vorhandenen Studienwerken.
Uwe Gäb