Mieczyslaw Weinberg

24 Preludes

Gidon Kremer

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Accentus Music
erschienen in: das Orchester 10/2019 , Seite 69

Mit seiner Bearbeitung der 1969 entstandenen 24 Preludes für Violoncello solo op. 100 von Mie­czysław Weinberg fügt sich der Geiger Gidon Kremer in eine lange Tradition von manchmal mehr, manchmal weniger gelungenen Versuchen ein, das Repertoire fremder Instrumente für den eigenen Gebrauch zu erschließen. In der Tat spürt man, dass sich Kremer diese Übertragung auf den Leib geschrieben hat, denn sie ermöglicht ihm, alle Register seiner geigerischen Fähigkeiten zu ziehen, um die unterschiedlichen Facetten von Weinbergs musikalischem Kaleidoskop zur Geltung zu bringen. Über die Dauer von gut 47 Minuten hinweg zeichnet sich die Wiedergabe durch überlegten Umgang mit der Artikulation sowie durch eine sorgfältige Balance von virtuosen Momenten und ausdrucksgesättigtem Spiel aus. Dass sich Kremer niemals scheut, die Extreme auszuloten, kommt auch in diesem Fall der Musik zugute: So formuliert er manche seiner Einsätze (etwa in Nr. 2) bewusst gewaltsam und starr, während er andernorts (etwa in den Preludes Nr. 7, 11 und 22) auf subtile Weise die Möglichkeiten klangfarblicher Differenzierung erkundet, mit wandlungsfähigem Vibrato die Momente latenter oder tatsächlicher Polyfonie herausarbeitet (in Nr. 8 und 15) oder sich (wie in Nr. 5) mit poröser Tonqualität der Grenze des Erlöschens nähert. Kremers Bearbeitung kommt diesen interpretatorischen Eigenheiten dadurch entgegen, dass sie unter Anwendung violinspezifischer Instrumentationswirkungen (etwa durch Rückgriff auf Flageoletts und Oktavgriffe oder durch Verteilung des Geschehens auf mehrere Registerlagen) die bei Weinberg angelegten Wirkungen vertieft und – gleichsam als Ersatz für den wesentlich voluminöseren Celloklang – zusätzliche Klangräume erschließt. Vergleicht man die klingenden Gestalten von Originalversion und Bearbeitung miteinander, fallen jedoch auch einige Dinge negativ auf. Beispielsweise nimmt Kremers Einsatz von Klangfarben nur wenig Rücksicht auf die in Nr. 5 eingelassenen Melodiezitate aus Schumanns Cellokonzert, und Nr. 21 lässt in der Violinversion viel von jenem Biss vermissen, der sich bei Weinberg aus dem beständigen Kreisen um die Motivik aus Schostakowitschs erstem Cellokonzert ergibt. Nr. 10 wiederum wirkt gegenüber der Celloversion seltsam entleert und verliert fast völlig den verbissenen Charakter des Originals. Gravierender ist allerdings ein anderes Problem der Bearbeitung. Der Geiger nimmt keine Rücksicht darauf, dass Weinberg dem Zyklus eine sorgfältige Disposition zugrunde gelegt hat, deren Spannungen nicht nur aus den kontrastierenden Charakteren der Einzelstücke, sondern auch aus deren harmonischen Verhältnissen zueinander resultieren. Indem Kremer ohne Rücksicht auf diesen Kontext insgesamt neun Preludes in andere Tonarten transponiert, zerstört er dieses sorgfältig ausbalancierte Gefüge. So wird letzten Endes der Eindruck violintechnischer Meisterschaft von den Schwächen der Übertragung überschattet.
Stefan Drees