Niccolò Paganini

24 Caprices for solo violin op. 1

Augustin Hadelich (Violine)

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Warner Classics
erschienen in: das Orchester 06/2018 , Seite 71

Zufällig erschienen fast zeitgleich Einspielungen, die sich auf besonderen Wegen Niccolò Paganini nähern. Bei Accentus Music bildet die Auswahl einer Sechsergruppe aus den “24 Caprices” op. 1 das Ende einer Anthologie, in der Michael Barenboim einen Bogen über Luciano Berio zurück zu Tartinis Teufelstriller-Sonate und Salvatore Sciarrino schlägt. So setzt er den legendären Virtuosen nicht nur in eine italienische Traditionslinie, sondern macht auch die Modernität von dessen Kompositionen hörbar. Das rückt diesen berühmten Zyklus – diese höllisch schwere Bewährungsprobe! – ebenso in ein Bezugssystem wie die andere Neuerscheinung, in der der kräftig durchstartende deutsch-amerikanische Geiger Augustin Hadelich alle “24 Capricen” durchläuft.
Das gelingt ihm, weil er sich ihnen weniger mit Gesten einer hochdramatischen Angstallüre nähert als durch Fragen betreffend Legende contra Fakten, virtuosen Anspruch contra Ausdruck. Was er für sich entdeckt, ist mehr 18. denn frühes 19. Jahrhundert: Augustin Hadelich, der in seinem Musizieren mehr dem eigenen als dem Diktat des stilistisch korrekten Fühlens folgt, entdeckt in jenem aus mehreren Entstehungsetappen zusammengefassten, mehr symbolisch als chronologisch korrekten Opus 1 die Empfindsamkeit. Weil er sich so wenig um die traditionellen Charakterzuschreibungen an die 24 Stücke kümmert und weil er den Noten mehr Aufmerksamkeit schenkt als der grifftechnischen Ausstellung, verlieren diese Werke unter seinen Händen die vertrauten stählernen und gehärteten Sensationen.
Gewiss, die schnellen Läufe haben hier nicht ganz das zirpend-rauschende Ebenmaß, das sich durch gleichmäßige Motorik auszeichnet und als jener souveräne Automatismus erscheint, den Gegner Paganinis ablehnen. Ganz im Gegenteil: Augustin Hadelich, der Glissandi, extreme Sprünge, Doppelgriffe nicht aus den Perioden und Phrasierungen herausfallen lässt, setzt auf melodische Verblendungen. Bei ihm stehen immer mehrere motivische Einheiten unter einem größeren Bogen. Die Phrasierungen kontrastieren nicht nur, sondern sie dialogisieren. Und oft ist die Tonbildung von einer fragenden Melodienhaftigkeit, die nicht in die Ferne schweift, sondern durch die Betonung der ersten Taktteile im Gleiten bleibt, ohne bravouröse Beschleunigung.
Hadelich zieht sich selbst und damit Paganini aus dem Wettbewerb für die Virtuositätskategorien Geschwindigkeit, gehärtete Konturen und rasante Selbstbespiegelung. Er holt Paganini, dessen musikalische Textur oft eine instrumentale und formale Erweiterung vokaler Möglichkeiten ist, zurück in eine ausgleichende Kantabilität mit verzögernden Reizen und einem Sieg von Emotion über Motorik. Das geht auch mit Hadelichs Vermutung konform, dass Paganini, um die Legende seines Virtuosentums zu untermauern, die Streichersolostimmen eigener Werke mit drastischeren Schwierigkeiten fütterte, als er diese bei Konzertauftritten ausführte.
Roland H. Dippel